© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/14 / 11. Juli 2014

Einblick in vergangene Welten
Geburtsstunde einer literarischen Gattung: Vor 200 Jahren erschien Sir Walter Scotts historischer Roman „Waverley“
Heinz-Joachim Müllenbrock

Am 7. Juli 1814 wurde mit dem Erscheinen von Sir Walter Scotts „Waverley, or, ’Tis Sixty Years Since“ (Waverley oder Es ist sechzig Jahre her) ein neues Kapitel der Literaturgeschichte aufgeschlagen. Der Siegeszug des historischen Romans begann, und Scott wurde zum Impulsgeber einer ganzen literarischen Gattung.

Die nominelle Mittelpunktstellung in Scotts Erstlingsroman hat der junge Edward Waverley, Offizier eines in Schottland stationierten englischen Regiments, inne. Sein handlungsbestimmender Orientierungskonflikt wird durch den Gegensatz zwischen den whiggistischen Interessen seines das neue Königshaus Hannover unterstützenden Vaters und den jakobitischen Neigungen seines dem früheren Königshaus Stuart die Treue bewahrenden Onkels vorgezeichnet.

Der wenig entscheidungsfreudige, träumerisch veranlagte und eine romantisch anmutende Sympathie für die sich auflehnenden Highlanders empfindende Waverley schwankt, wie schon sein Name besagt, zwischen den Parteiungen und wird in den Jakobitenaufstand von 1745/46 verstrickt, der mit der Niederlage in der bis heute in Schottland als tragisch empfundenen Schlacht von Culloden scheiterte.

Nachdem Waverley sich zunächst in Flora Mac-Ivor, die Schwester des Clan-Führers Fergus Mac-Ivor, verliebt hat, heiratet er schließlich die Tochter des die schottischen Lowlands repräsentierenden Barons Bradwardine und findet gewissermaßen in eine bürgerliche Existenz zurück. Dieser Schluß deutet an, daß Scott die Erhebung der Jakobiten zwar nicht ohne patriotische Wehmut schildert, aber die inzwischen fest etablierte Staatsordnung akzeptiert.

Die Geschichte als der wahre Protagonist

Aufgrund der eher blassen Erscheinung seiner Hauptfigur hätte der sofort allenthalben vom Publikum wie von den Rezensenten begeistert aufgenommene Roman kaum Furore machen können. Waverley ist aber nicht nur ein mittelmäßiger, sondern zugleich ein mittlerer Held. Als Repräsentant des Lesers, der aus seinem Blickwinkel an die geschichtlichen Ereignisse herangeführt wird, kommt Waverley die Aufgabe zu, zwischen der Lesergegenwart und der Erlebniswelt der Vergangenheit zu vermitteln. Als mittlerer im Sinne eines neutralen, das heißt zwischen den Parteiungen stehenden Helden erfüllt Waverley die durch charakterliche Veranlagung und Lebensumstände nahegelegte Funktion, mit beiden kämpfenden Lagern in Verbindung zu treten, um so einen erlebnismäßigen Mitvollzug des historischen Konflikts zu gewährleisten.

Die Konzeption der primär „Zubringerdienste“ leistenden Hauptfigur ermöglichte Scott die neuartige Konzentration auf den Objektbereich der Geschichte, das eigentliche Interessenzentrum dieses Romans. An die Stelle des passiven Helden trat die Geschichte als der wahre Protagonist. In dem fremdartig-bizarren Raum des schottischen Hochlandes mit seinen gesellschaftlichen Anachronismen stand Scott gewissermaßen eine soziologische Experimentierbühne zur Verfügung, auf der eine entwicklungsgeschichtliche Etappe seines Landes dramatisiert werden konnte.

Das englische Lesepublikum des frühen 19. Jahrhunderts, dessen Lebenswirklichkeit bereits die Auswirkungen der industriellen Revolution prägten, war fasziniert von diesem Einblick in eine schon vergangene Welt. Zugleich thematisierte Scott mit den Auseinandersetzungen zwischen Jakobiten und Hannoveranern den geschichtsträchtigen Konflikt zwischen Tradition und Fortschritt, der, wie schon Coleridge betonte, ein beständiges Dilemma der menschlichen Existenz verkörpert. Aus dieser „Waverley“ und die anderen schottischen Romane verbindenden thematischen Konstanz erwächst die progressiver Eitelkeit abholde Einsicht, daß die Bilanz geschichtlicher Entwicklung Gewinn wie Verlust einschließt.

Heroischer Opfermut der Hochländer

Daß der Einblick in das damalige Schottland so authentisch ausfällt, hängt ganz wesentlich mit der Wahl der sogenannten mittleren Vergangenheit zusammen, eines bei historischen Romanciers bis heute besonders beliebten Zeitraums. Die Entscheidung für die erst kurz zurückliegende Vergangenheit verschaffte Scott sowohl in historiographischer Hinsicht – den Faktenbestand betreffend – als auch in darstellungsästhetischer Hinsicht – das damalige Lebensgefühl betreffend – die gewünschte Realitätsgrundlage. Insbesondere ermöglichte die mittlere Distanz ihm den Gebrauch des schottischen Dialekts, in dem sich das historisch Autochthone artikuliert und der maßgeblichen Anteil daran hat, daß das Menschentum einer vergangenen Epoche in lebensechter Unmittelbarkeit bezeugt werden konnte.

In seinem im England der Kreuzzugszeit spielenden Roman „Ivanhoe“ (1819) war Scott aufgrund der erheblichen, mehr als 600 Jahre betragenden Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu einer den schottischen Romanen gleichwertigen umgangssprachlichen Belebung von Geschichte außerstande und mußte einen zweifelhaften sprachlich-stilistischen Kopromiß eingehen. Durch seine mühelose, noch auf mündlicher Überlieferung fußende Vertrautheit mit dem Schottland der jüngeren Geschichte beschwört Scott in „Waverley“ auf der anschaulichen Grundlage der breiten Gestaltung der Clangesellschaft den heroischen Opfermut der patriarchalisch organisierten Hochländer herauf. Das bewegendste Beispiel dafür liefert Evan Dhus Vorschlag, anstatt seines zum Tode verurteilten Häuptlings Fergus Mac-Ivor hingerichtet zu werden.

Scotts epochemachende Leistung war es, als erster Autor den Menschen in seinem zeitspezifischen Denken, Fühlen und Handeln beschrieben zu haben; darin besteht sein Beitrag zur Weltliteratur. In der überzeugenden Vermittlung mentalitätsgeschichtlicher Umstände liegt die besondere Stärke des historischen Romans; darin ist dieser der Geschichtsschreibung bis heute überlegen, auch wenn diese sich gelegentlich – in England zum Beispiel im Falle von Macaulays „History of England“ (1849/61) – um eine anschauungsbildende Verlebendigung der Vergangenheit bemüht hat.

Anders als Aristoteles, der in seiner „Poetik“ von einem antithetischen Verhältnis zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung ausgeht, legte Scott ein komplementäres Verhältnis zwischen diesen Gebieten zugrunde; die literarische Phantasie hatte sich unter der dem Historismus eigenen Achtung der Autonomie des Vergangenen zu entfalten. Dabei legte er in klarer Realisierung der Leistungsmöglichkeiten der Romangattung den Schwerpunkt eindeutig auf die Schilderung des privaten Lebensbereichs, wie dieser von den geschichtlichen Hochereignissen berührt wird.

Entsprechend sind die „Helden“ seiner historischen Romane nicht die beglaubigten Gipfelfiguren der Geschichte, sondern fiktive Personen, die, obwohl in die Zeitereignisse verstrickt, letztere nicht selbst auslösen. Indem Scott die historischen Akteure, vom Standpunkt der Fabel aus gesehen, nur als Nebenfiguren anlegt und sie, wie auch in seinem vielleicht größten Roman „The Heart of Midlothian“ (1818), vornehmlich in bedeutsamen Situationen auftreten läßt, vermeidet er sowohl eine romantisch-monumentale Darstellung, wie sie später von Thomas Carlyle bevorzugt wurde, als auch eine psychologisch-entzaubernde Behandlung, wie sie später W. M. Thackeray vornahm. So konnte er die Persönlichkeitsentwicklung des Helden innerhalb der von der Historie vorgegebenen Grenzen ohne Beeinträchtigung des Wahrheitsanspruchs frei ausgestalten.

Die Reihe der nach dem Erstling benannten „Waverley Novels“ zählt zu den größten Erfolgen, welche die Literaturgeschichte zu verzeichnen hat. Zu deren Kapriolen gehört es freilich auch, daß Scotts Mittelalterroman „Ivanhoe“, der sich qualitativ nicht mit den schottischen Romanen messen kann, die besondere Gunst des Publikums errang und eine bis heute nicht nachlassende Breitenwirkung ausübt. Die in „Ivanhoe“ eindeutig überwiegende Tendenz, das Theatralisch-Romanzenhafte als das Geschichtliche auszugeben, macht bis heute die Anziehungskraft der Gattung in ihrer trivialen, auf die ornamentale Wirkung der Vergangenheit setzenden Spielart aus.

Mit „Waverley“ hatte Scott eine Mine aufgetan, die nicht wieder versiegen sollte. Die weitere Entwicklung des Genres, das im geschichtsbewußten 19. Jahrhundert zu einer Leitgattung aufstieg, die nicht zuletzt der nationalen Identitätsbildung diente, ist ohne Scotts Vorbild undenkbar. Autoren wie Balzac, de Vigny, Mérimée und Hugo in Frankreich, Manzoni in Italien, Puschkin und Tolstoi in Rußland, James Fenimore Cooper in Nordamerika und Stifter und Fontane im deutschen Sprachraum bezeugen die Fruchtbarkeit des von Scott ausgegangenen Impulses. Die „Waverley“ prägende nahtlose Verschmelzung von historischer Wirklichkeitstreue und literarischer Anschaulichkeit markiert bis heute das Darstellungsideal der von Scott initiierten Gattung.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über H. G. Wells (JF 16/14).

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