© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/14 / 11. Juli 2014

Eine günstige Gelegenheit genutzt
Der US-Historiker Sean McMeekin analysiert die Julikrise 1914 und kommt zu überraschenden Ergebnissen
Werner Lehfeldt

Der derzeit noch in Istanbul lehrende US-Historiker Sean McMeekin, Autor des 2001 erschienenen Buches „The Russian Origins of the First World War“ (Rußlands Weg in den Krieg. Der Erste Weltkrieg – Ursprung der Jahrhundertkatastrophe, JF 19/14), legt in seinem fast gleichzeitig auf deutsch erschienenen Werk eine detaillierte Beschreibung und Analyse der Julikrise des Jahres 1914 vor. Er bemüht sich darum, die Zeitpunkte der die Julikrise prägenden Entscheidungen und Ereignisse präzise zu bestimmen.

Die letztliche Verantwortung für den Ausbruch der Julikrise wird Gavrilo Princip, dem Mörder Franz Ferdi-nands und von dessen Gemahlin, seinen Komplizen sowie den Organisatoren des Attentats, den Angehörigen der Belgrader Terrorganisation „Schwarze Hand“, zugeschrieben. Der serbische Ministerpräsident Nikola Pašić billigte zwar den Anschlag auf das Leben des Erzherzogs nicht, verhinderte ihn aber auch nicht und leistete später den Österreichern keine Hilfe bei seiner Aufklärung.

Als nächste werden der österreichisch-ungarische Außenminister Leopold Graf Berchtold, Generalstabschef Conrad von Hötzendorf und die anderen Minister der kaiserlichen Regierung mit der Frage der Verantwortlichkeit konfrontiert. Sie werden in dem Sinne für schuldig befunden, daß sie das Sarajevoer Verbrechen eindeutig als Vorwand für einen Bestrafungskrieg gegen Serbien genutzt hätten. Die Verantwortlichkeit der deutschen Politiker dafür, daß eine Eskalation der Balkankrise möglich, wenngleich dadurch nicht unausweichlich wurde, besteht für Sean McMeekin darin, daß Wilhelm II. und Theodor von Bethmann Hollweg den Österreichern im Rahmen der Hoyos-Mission vom 5./6. Juli den berüchtigten „Blankoscheck“ für einen gegen Serbien gerichteten Krieg ausstellten, ohne daran Bedingungen zu knüpfen. Der Autor unterstreicht aber in diesem Zusammenhang mehrfach, daß es Wilhelm II. und Bethmann Hollweg niemals, weder vor dem Attentat von Sarajevo noch danach, darum gegangen sei, einen Präventivkrieg gegen Rußland zu führen, bevor ihre große Militärreform 1917 Früchte tragen könnte. Für eine solche Absicht gebe es keinerlei Evidenz.

So groß und bedeutsam Berchtolds Fehler und Irrtümer auch gewesen sein mögen, so war doch nicht er es, der den Countdown für einen europäischen Krieg in Gang setzte. Die Verantwortung für diesen Countdown spricht der Autor Rußland zu. Dessen Außenminister Sergei Sasonow erteilte dem Chef des Generalstabs des Heeres bereits am 24. Juli den Auftrag, Vorbereitungen für die Mobilisierung zu treffen. Unterstützung für diese so früh eingenommene harte Linie gegenüber Wien hatte Sasonow von dem französischen Präsidenten Raymond Poincaré während dessen Staatsbesuchs in Sankt Petersburg vom 23. bis zum 25. Juli bekommen.

Am Mittag des 25. Juli setzte Zar Nikolaus II. seine Unterschrift unter das Gesetz über den Kriegsvorbereitungszustand, das dann um Mitternacht in Kraft trat. Er tat dies, bevor ihm die serbische Antwort auf das Wiener „Ultimatum“ bekannt war und bevor Serbien selbst oder Österreich-Ungarn mobilisiert hatten, von Deutschland ganz zu schweigen. Alle diese russischen Maßnahmen geschahen im geheimen, und sie bedeuteten eindeutig eine Vorbereitung auf den Krieg. Der Plan für die Kriegsvorbereitungsperiode war bereits 1912/13 entwickelt worden und zielte darauf ab, sowohl Österreich-Ungarn als auch Deutschland gegenüber bei der Mobilisierung der Streitkräfte einen Vorsprung zu gewinnen.

Rußland war also in dem heraufziehenden Konflikt die erste europäische Macht überhaupt, die mobilisierte, und zwar zugleich gegen Österreich-Ungarn und gegen Deutschland. Diese Mobilisierung war bereits am 28. Juli weit vorangeschritten. Technisch war eine allein gegen Österreich-Ungarn gerichtete Teilmobilisierung unmöglich und wurde auch niemals durchgeführt. In der Nacht des 29. Juli, als es auf deutscher Seite noch keinerlei Mobilisierungsvorbereitungen gab, unterzeichnete Nikolaus II. die Generalmobilmachung. Er wie alle seine Berater wußten, daß dies den Krieg bedeutete. Auch die entscheidenden französischen Politiker wußten, daß die russische Generalmobilmachung Krieg bedeutete, ein Schritt, den sie selbst unterstützt hatten und von dem ihnen bewußt war, daß nunmehr Frankreich selbst zu mobilisieren und damit in den Krieg einzutreten hatte.

Sarajevo war für Rußland eine günstige Gelegenheit

Was waren die Motive dafür, daß sich Rußland in der Julikrise dazu entschloß, einen europäischen Krieg zu entfesseln? Das Hauptmotiv war nicht der Schutz des serbischen „Brudervolkes“ gegenüber einem österreichisch-ungarischen Angriff, sondern galt Rußlands langfristigen Balkaninteressen, insbesondere dem Interesse, endlich die Kontrolle über die Meerengen zu gewinnen. Gerade durch die für Juli 1914 geplante Indienststellung des in England gebauten Schlachtkreuzers „Sultan Osman I“ war ein kritischer Moment erreicht. Dieser Schritt drohte Rußlands Aussicht, diese Kontrolle durch den Bau eigener Schlachtschiffe zu erlangen, zu vernichten. Nur eine kriegerische Aktion gegen das Osmanische Reich konnte dem entgegenwirken.

Für die Auslösung einer solchen Aktion bedurfte es eines Vorwandes, eines europäischen Krieges, an dem sich Frankreich und Großbritannien nicht gegen Rußland wenden, sondern sich auf seiner Seite an ihm beteiligen würden. Es war genau die einzigartige Ereignisabfolge nach dem Attentat von Sarajevo, die einen solchen Vorwand ergab. Berchtolds Vorgehen gegen Serbien am 28. Juli verschaffte Rußland den Vorwand, die bereits seit drei Tagen andauernden Kriegsvorbereitungen eskalieren zu lassen.

Die Geheimhaltung dieser Vorbereitungen und die Verschiebung der Erklärung der Generalmobilmachung ermöglichten es Sasonow, den britischen Außenminster Edward Grey davon zu überzeugen, Rußland habe mit der Mobilisierung seiner Streitkräfte erst nach Österreich-Ungarns Kriegserklärung an Serbien begonnen. „Das ist unwahr“, resümmiert McMeekin. Das Reden von einer Teilmobilisierung sei lediglich ein diplomatisches Manöver gewesen, welches darauf abzielte, Frankreich und Großbritannien davon zu überzeugen, daß Rußland Deutschland keinen Vorwand für einen Krieg geben wolle. „Die Entscheidung für einen europäischen Krieg wurde von Rußland in der Nacht des 29. Juli getroffen“, denn die Generalmobilmachung bedeutete Krieg, wie in Rußland alle Verantwortlichen wußten und wie dies auch Frankreich wußte. „1914 waren Frankreich und Rußland weit mehr darauf aus, zu kämpfen, als Deutschland“, so McMeekin. Dort hat die Regierung von allen Großmächten zuletzt und auch dann erst noch zögernd die Mobilisierung in Gang gesetzt.

Sean McMeekin: Juli 1914. Der Countdown in den Krieg. Europa Verlag, Berlin 2014, gebunden, 560 Seiten, Abbildungen, 29,99 Euro

Foto: Frankreichs Präsident Raymond Poincaré mit Zar Nikolaus (vorne) beim Gipfeltreffen im Juli 1914 in Sankt Petersburg: Das Schlagwort „Teilmobilmachung“ war nur ein Propagandatrick

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen