© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/14 / 18. Juli 2014

Kinder lernen durch Vorbilder
Gutes Benehmen: Warum Erziehung und Regeln für ein gedeihliches Miteinander wichtig sind
Birgit Kelle

Unsere 15jährige Tochter berichtete kürzlich von der Geburtstagsfeier einer Freundin. Diese hatte gerade von ihren Eltern Geschenke im Wert von fast 1.000 Euro erhalten. „Sie hat sich nicht einmal bedankt.“ Szenenwechsel: Ich laufe mit unseren Kindern durch das Wohngebiet, vor uns ebenfalls eine Mutter mit ihren Kindern. Sie verteilt Süßigkeiten, es wird ausgepackt und verspeist, die Verpackung werfen die Kinder – und die Mutter – einfach auf den Boden und laufen weiter.

Erneuter Szenenwechsel: Im Sandkasten auf dem Spielplatz, eine Zehnjährige spielt mit ihrem Babybruder, weit und breit keine Eltern zu sehen. Die große haut dem Kleinen eine ins Gesicht, er weint, danach tröstet sie ihn. Nachdem sich der Vorgang dreimal wiederholte, gehe ich hin und frage die Große, warum sie ihren kleinen Bruder schlägt. Antwort: „Meine Mama hat gesagt, wenn er mich nervt, darf ich ihn hauen.“

Letzte Szene: Ein Freund unseres Sohnes auf Besuch zum Mittagessen. Noch bevor alle etwas auf dem Teller haben, fängt er sofort an, das Essen in sich hineinzuschaufeln. Als er fertig ist, steht er wortlos auf und legt sich auf die Couch – wir sind alle noch beim Essen. Auf meine Frage, was er da mache, sagt er: Ich bin schon fertig.

Normale Szenen aus dem Leben, die jeder beisteuern könnte und die eines gemeinsam haben: Gutes Benehmen, frühere Selbstverständlichkeiten, scheinen aus der Mode geraten. „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ sagen, bitte, danke, rücksichtsvoll sein, höflich, hilfsbereit.

Viele Alltagsszenen, die heute in die Kategorie „schlechte Erziehung“ eingeordnet werden, sind jedoch tatsächlich weniger schlechte, sondern vielmehr gar keine Erziehung. Kann man einem Kind vorwerfen, daß es keine Tischmanieren hat, wenn ihm nie jemand welche beibrachte? Daß es nicht aufsteht für ältere Menschen im Bus, wenn ihm nie jemand gesagt hat, daß so etwas angebracht wäre? Und wie überzeuge ich Kinder davon, etwas zu tun, wenn sich in ihrem Umfeld zunehmend nicht einmal Erwachsene an diese Regeln halten?

Eines unserer Kinder war drei Jahre in einer Kindergartengruppe, in der morgens auf ihr fröhliches „Guten Morgen“ beim Betreten des Raumes niemand antwortete. Auch keine Erzieherin. Und man weiß ja in einer Gesellschaft, in der alle jung aussehen und sein wollen, inzwischen nicht, ob so mancher Rentner nicht eher beleidigt ist, wenn man ihm den eigenen Sitzplatz anbieten will. Nun bemängelte schon Sokrates vor zweitausend Jahren die Jugend, die nicht auf die Eltern hört. Der Vorwurf ist also nicht neu. Der Unterschied heute liegt wohl darin, daß es selbst unter Erwachsenen gar keinen Konsens mehr gibt, wie das richtige Benehmen zu sein hat.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich es selbst als Kind gehaßt habe, wenn meine Eltern darauf bestanden, daß wir Kinder in unserem Heimatort auf der Straße jeden zu grüßen haben. Ordentlich „Guten Tag“ sagen. Die Hand geben, in die Augen sehen beim Sprechen. Unsere Lehrer durften uns maßregeln, auch die Nachbarn, wir waren wegen unseres Benehmens ständig unter Beobachtung des ganzen Dorfes. Benahmen wir uns daneben und es kam unseren Eltern zu Ohren, wurden wir bestraft – heute hat sich das in manchen Bereichen nahezu pervertiert.

„Es braucht ein ganzes Dorf um ein Kind großzuziehen“ – Wann immer von Erziehung in diesem Land gesprochen wird, kommt garantiert dieses afrikanische Sprichwort irgendwann ins Spiel, um zu zeigen: Erziehung ist nicht nur Sache der Eltern, sondern auch des Dorfes, sprich der ganzen Gesellschaft.

Was auch immer in diesem Zusammenhang unter Erziehung zu verstehen ist, eines sollten alle Mitglieder der Gesellschaft zu ihrer eigenen Sicherheit wissen: Versuchen Sie dieses Sprichwort niemals im Zusammenhang mit dem Benehmen eines fremden Kindes in der Öffentlichkeit anzuwenden. Denn da hört der Spaß auf. Lehrer heute müssen damit rechnen, daß sie wegen Maßregelungen oder gar Strafen gegen ihre Schüler von den Eltern angegangen werden, daß sie verklagt werden oder wenigstens eine Beschwerde beim Schulleiter eingeht. Nicht wegen des Benehmens des eigenen Kindes, sondern gegen die Person, die es wagt, das Kind zu maßregeln.

Wer sich in Restaurants über schreiende und herumrennende Kinder beschwert, wird gerne sofort als kinderfeindlich abgestempelt. Gleiches gilt für Menschen, die sich von lauten Kindern während Gottesdiensten gestört fühlen. Wie oft sehe ich Erwachsene über rote Ampeln hetzen, während ich mit meinen Kindern dort geduldig auf Grün warte, obwohl auch wir es eilig haben. Es gilt als Binsenweisheit, daß Kinder vor allem durch das Vorbild anderer lernen. Wie oft sehen sie schlechtes Benehmen bei Erwachsenen in der Öffentlichkeit?

Wenn Dieter Bohlen im Fernsehen Teenager beschimpft, dann lacht das Publikum. Was lernen die Millionen vor den Bildschirmen? Cool ist, wer den Starken markiert, wer andere fertigmacht. Damit kann man sogar Geld verdienen. In sozialen Netzwerken gehört Pöbeln inzwischen zum „guten Ton“, und es sind in der Regel Erwachsene, die dort jede „gute Kinderstube“ und jeden Anstand vergessen, den sie doch vermutlich von den eigenen Eltern noch beigebracht bekamen.

Paradox wird es zudem, wenn beispielsweise auf Twitter feministisch bewegte Menschen Sexismus anprangern und allen Ernstes neue Verhaltens- und Benimmregeln vor allem für den männlichen Teil der Bevölkerung aufstellen, gleichzeitig aber andere als die eigene Meinung zum Thema als „sexistische Kackscheiße“ bezeichnen; das Wort macht inzwischen Karriere. Der Widerspruch zwischen dem eigenen und dem eingeforderten Benehmen scheint ihnen gar nicht mehr aufzufallen. Was werden sie ihren eigenen Kindern mit auf den Weg geben, sollten sie noch welche zeugen?

Nein, wir können auf gutes Benehmen nicht verzichten. Jede Gesellschaft braucht ihre Regeln, nach denen das friedliche Zusammenleben funktioniert. Es braucht den gesellschaftlichen Konsens, einen Verhaltenskodex, um eine demokratische Gesellschaft überhaupt aufrechtzuerhalten. Denn es ist eines, sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegzusetzen, weil man sie für überholt hält oder sich ihnen bewußt nicht anpassen will – aber selbst, um die eigene Erziehung über Bord zu werfen, muß man noch wissen, was erwartet wird.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen