© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/14 / 18. Juli 2014

Fachkräftemangel
Der Mangel hat keine Zukunft
Dirk Meyer

Der Fachkräftemangel scheint offensichtlich: Pflegenotstand, Wartelisten beim Facharzt, Auftragsstau im Handwerk als auch bei Unternehmen, die händeringend nach Fachkräften suchen. Erklärt wird dies mit einer demographisch alternden Bevölkerung, einer sinkenden Lebensarbeitszeitspanne sowie der mangelnden Eignung von Schulabgängern für die weitere Qualifikation.

Manches davon war langfristig absehbar, wie die ausbleibenden jungen Menschen. Ihr Fehlen stand schon etwa 20 Jahre vor dem Eintritt ins Berufsleben fest. Eine demographische Trendumkehr benötigt Jahrzehnte. Innerhalb einer Schülergeneration entwickelte sich das Phänomen von Schulabgängern mit erheblichen Defiziten in Rechtschreibung und in den Grundrechenarten. Und die Rente mit 63 ließ sich innerhalb eines Dreivierteljahres umsetzen. Not fällt also nur im letzten Fall vom Himmel. Die politischen Akteure taten den lange sichtbaren Mangel als Fata Morgana ab, denn mit diesem Thema ließen sich keine Wahlen gewinnen.

Findigkeit ist deshalb gefragt, um Lösungen zu bieten. Universitäten qualifizieren in einem Sondersemester, bereits in Rente gegangene Fachkräfte werden über Werkverträge zurückgeholt. An einer besseren Bildungspolitik führt kein Weg vorbei.

Not macht erfinderisch und fordert die marktwirtschaftliche Anpassung heraus. Kurzfristig wirkt der Lohn- und Preismechanismus. Besonders knappe Qualifikationen sowie die hieraus gefertigten Produkte und Dienstleistungen werden teurer, erhöhen das Angebot und senken die Nachfrage. Daß dies nicht immer der Fall ist, liegt an staatlicher Regulierung (Pflegesätze, ärztliche Gebührenordnung), an tariflicher Arithmetik zum Erhalt des Betriebsfriedens oder an Unternehmen, die einfach ihre Lieferfristen erhöhen. Jedoch haben unterlassene Preiserhöhungen kurzfristig immer eine Mangelsituation zur Folge. Zudem ist Qualifikation ein Gut, welches eine „Ausreifungszeit“ von drei (Lehrberuf) bis fünf Jahren (MA-Abschluß) benötigt.

Findigkeit ist deshalb gefragt, um kurzfristig Lösungen zu bieten. So bereiten bereits jetzt größere Unternehmen und die IHKs schwächere Schulabgänger durch Schulungsmaßnahmen auf eine Lehrstelle vor. Universitäten qualifizieren in einem Semester Null in Mathematik und Naturwissenschaften, um die fehlende Eignung für ein zukünftiges Fachstudium nachzuliefern. Bereits in Rente befindliche Fachkräfte werden über Werkverträge zurückgeholt, da das Gesetz reguläre Arbeitsverträge unattraktiv macht. Hier ist das Sozialrecht nachzubessern. Sofort wirksam sind auch Bemühungen der Bundesagentur sowie von Großunternehmen, die in den südeuropäischen Krisenstaaten mobilitätsbereite arbeitslose Facharbeiter und Akademiker anwerben.

Mittelfristig geht kein Weg an einer besseren Bildungspolitik vorbei. Schulen und Universitäten sind besser auszustatten, um die sachlichen und personellen Voraussetzungen für einen guten Unterricht zu gewährleisten. Offizielle Zahlen belegen einen ersatzlosen Ausfall beziehungsweise nicht planmäßig erteilten Unterricht von etwa 15 Prozent, fehlende PCs auf aktuellem Stand sowie einen baulichen Zerfall. Eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist notwendig. Viele Arbeitgeber sorgen schon jetzt mit Betriebskindergärten, flexiblen Arbeitszeiten sowie Heimarbeitsplätzen vor. So stieg die Erwerbsquote bei Frauen zwischen 15 und 65 Jahren in den letzten zehn Jahren von ca. 64 auf 73 Prozent. Eine weitere Baustelle ist eine in dieser Hinsicht nicht zielführende Migrationspolitik. Das kanadische Punktesystem, das Bildung, Sprachkenntnisse und Arbeitsmarktchancen bewertet, könnte als Vorbild dienen.

Darüber hinaus dürften Anpassungen in der Produktionstechnologie und im Produkt- und Dienstleistungsangebot einer Fachkräfteknappheit entgegensteuern. Technisierungen bei weiter zunehmendem Maschineneinsatz befördern den Trend hin zu einer (fast) menschenleeren Fabrik. Der Roboter im OP, sein Einsatz für personenbezogene Dienste in Pflegeheimen für Essensreichung und Waschen sowie im Haushalt ist nur noch zum Teil Zukunft. Realität sind hingegen mobile Dienstleistungen, um in entlegenen Regionen bei optimaler Auslastung der Fachkräfte ein Angebot an Bank-, Bücherei- sowie hausärztlicher Versorgung aufrechtzuhalten. Die damit verbundenen gesellschaftlichen Folgen für unser Zusammenleben mag man kritisch sehen. Aufhalten läßt sich diese Entwicklung unter den gegebenen Rahmenbedingungen kaum, denn Fachkräftemangel wird keine Zukunft haben.

 

Prof. Dr. Dirk Meyer, Jahrgang 1957, lehrt Ordnungsöko­nomik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg mit den Forschungsschwerpunkten Euro, Wettbewerbs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.

Foto: Auf der Baustelle: Vor drei Jahren schlug das Schweizer Prognos-Institut Alarm: Bis zum Jahr 2030 würde es eine Lücke von 5,2 Millionen Fachkräften geben, die unser aller Wohlergehen gefährde. Heute prophezeit dasselbe Institut, Deutschland stehe wirtschaftlich vor einem „goldenen Jahrzehnt“. Was stimmt nun?

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