© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/14 / 18. Juli 2014

Aufzug des verlorenen Postens
Ferne, fremde Lebenswelten für heutige Menschen in Deutschland: Karl Heinz Bohrers Besinnung auf die Akteure des 20. Juli 1944
Dirk Glaser

Bis in die 1960er Jahre glaubte ein Drittel der Westdeutschen, bei den Attentätern, die am 20. Juli 1944 versuchten, Adolf Hitler zu töten und das NS-Regime mit einem Staatsstreich zu beseitigen, habe es sich um Vaterlandsverräter gehandelt. Nur eine Minderheit war gegenteiliger Ansicht, während dem Gros der Wirtschaftswunderbürger eine Bewertung dieser historischen Tat schlichtweg gleichgültig war.

Trotzdem führte der enge Freund der sozialdemokratischen Widerständler Carlo Mierendorff und Theo Haubach, der Schriftsteller Carl Zuckmayer, 1939 in die USA emigriert, seit 1958 von der Schweiz aus in die kulturpolitischen Debatten der Bonner Republik eingreifend, die bescheidene gedächtnispolitische Resonanz des „20. Juli“ nicht auf diese demoskopisch ermittelte Mischung aus Indolenz und fortdauernder „Nazi“-Mentalität zurück. Ebensowenig auf den stets virulenten Vorwurf des „Zu spät“ und „Zu dilettantisch“, demzufolge das „linkische“ Unternehmen als „Aufzug des verlorenen Postens“ „fast parodistischen Charakter“ (Joachim Fest) gehabt habe. 1969 machte der Autor von „Des Teufels General“ vielmehr die „veränderte Umwelt“ dafür verantwortlich, die „die Jüngeren“ mit anderen „Problematiken“ des Lebens konfrontiere. Aus der Perspektive dieser neuen Generation verschwänden die Hitler-Attentäter daher im Dämmer „zwielichtiger Zeiten“ und seien, wenn überhaupt, nur noch „schwer zu verstehen“.

Ohne Zuckmayers Befund zu erwähnen, hat der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer, Zeitzeuge des Jahrgangs 1932, ihn zwei Generationen später bestätigt und ausgebaut. In seiner Rede zur Gedenkveranstaltung in Berlin-Plötzensee, gehalten am 20. Juli 2013.

Sie enthält bestechende Reflexionen, die indes eher als Feiertagsrhetorik abgebucht wurden und bisher nahezu unbeachtet blieben. Dabei sind sie es wert, den Erinnerungsdiskurs noch lange über den 70. Jahrestag des gescheiterten Staatsstreichs hinaus zu beschäftigen. Illusionslos und in dieser Deutlichkeit bisher nicht ausgesprochen, bilanziert Bohrer, daß der öffentliche Bewußtseinswandel inzwischen getreu der Losung „Verbrannte Erde“ bis zum umfassenden Unverständnis für die „Helden des Widerstands“ fortgeschritten sei.

Volk und Nation als existentiell haltende Mächte

Folglich fehlen heute alle Voraussetzungen, um diesen „verkannten Tag“ im deutschen Geschichtskalender zu begreifen. Und zwar selbst in Ansätzen, wie man verblüfft gleich zum Auftakt bei dem hermeneutischen Profi Bohrer zur Kenntnis nimmt. Denn mehrheitlich, so hebt er an, seien die Träger der Militäropposition keine Demokraten gewesen, und „einige waren eher Nationalisten“. Nun ja, das ist wirklich weniger als die halbe Wahrheit, weil, ungeachtet aller christlich-universalistischen Fixierungen, Volk und Nation die existentiell haltenden Mächte nicht „einiger“, sondern beinahe aller Verschwörer waren.

Niemand unter ihnen hätte Stauffenbergs „Heiliges Deutschland“ für eine peinliche Poesiealbum-Reminiszenz gehalten. Indem Bohrer dieses, wie Adolf Hitler zu sagen pflegte, „granitene Fundament“ der Weltanschauung seiner Feinde herunterspielt, offensichtlich um dem Zeitgeist zu schmeicheln, schwächt er die eigene Argumentation, da er doch die Gräben, die unsere Gegenwart von jener Vergangenheit trennen, als unüberwindlich erscheinen lassen möchte.

Und den tiefsten Graben zieht nun einmal die Grenze zum Nationalismus, dem Stauffenberg und seine Mitstreiter so selbstverständlich verpflichtet waren wie die zivilen Funktionseliten in Verwaltung, Diplomatie, Industrie und Wissenschaft, ja, wie Bohrer konzediert, „selbst die beteiligten Sozialisten“. Je prägnanter man diese Verwurzelung im „Vaterland“ mithin exponiert, desto radikaler tritt der Bruch des Heute mit dem Gestern hervor.

Ulrich von Hassells „anderes Deutschland“ ist den „Menschen in Deutschland“ (Sigmar Gabriel), der „Bevölkerung“, heute deshalb Hekuba. Einfach weil in postnationalen Zeiten schon „diesem“ Deutschland kein Wert mehr zukommt, läßt sich logisch nach einem „anderen“ gar nicht mehr fragen. Das nationale „Wir“ sinkt täglich im Kurs, und der meinungsbildenden Kaste in den Medien wie an den Hochschulen erscheint selbst das von der politischen Nomenklatura angepeilte Ziel der Auflösung Deutschlands im EU-Multikulturalismus als zu provinziell.

Ein Prozeß, den Bundeskanzler Helmut Kohl mit parteiübergreifender Unterstützung gleich nach dem Mauerfall vorantrieb und als „unumkehrbar“ deklarierte. Seitdem sei, wie Bohrer zu Recht bemerkt, die Wiedergewinnung der nationalen Einheit paradoxerweise identisch mit der Entsorgung der nationalen Tradition. Der Patriotismus der Attentäter „befremdet“ nunmehr, weil jetzt „große Teile einer möglichen Erinnerung nicht mehr da sind“. Geographisch, topographisch ohnehin nicht, da die preußischen Provinzen im Osten fehlen, überhaupt das Preußen der Yorck, Schwerin, Kleist, Schulenburg, Tresckow, Gersdorff, Lehndorff, Haeften, Moltke qua Besatzungsdekret vom Februar 1947 von der Landkarte verschwand, „sozusagen für immer aufhörte zu existieren“.

Über Nacht wurde der preußische Adel, die agrarische Welt Ostelbiens und ihre über 700 Jahre gewachsene Kultur zum „bloßen Phänomen“ einer unendlich fernen Epoche. Aber es traf nicht nur Preußen und seine Führungsschichten. Auch die Gefühlsdistanz zur christlich-abendländischen, humanistisch-bürgerlichen Kultur vergrößerte sich nach 1990 in schnellen Schritten. Hinzu kommt, als „besonderer Ausdruck der Erinnerungslosigkeit“, die Abwesenheit von Gedenkstätten für die gefallenen deutschen Soldaten und die im Luftkrieg getöteten Zivilisten. Und für die deutschen Städte, „von deren einstiger Schönheit die anonyme Häßlichkeit von heute“ vielfach nur kümmerliche Spuren zeige.

Unwiederbringlich von geistigen Quellen getrennt

Gekappte Trossen zum alten Deutschland trennten uns zudem unwiederbringlich von den geistigen Quellen, die das Handeln der Anti-Hitler-Fronde motivierten. Bohrer nennt Adam von Trott zu Solz’ hegelschen Idealismus, Eugen Gerstenmaiers kerniges Luthertum, Stauffenbergs Verwurzelung in Stefan Georges Aristokratismus, Helmuth James von Moltkes „christlich-spirituelle Unerschütterlichkeit“. Leider von ihm kaum angedeutet, in „Fritzi“ Schulenburgs „kühn-ironischer Herausforderung“ des Freisler-Tribunals, sind die „völlig jenseits unserer Erfahrung“ liegenden Physiognomien, Körperhaltungen, Sprechweisen, Idiome, Umgangsformen.

Dabei wäre es gerade dem Ästhetiker Bohrer leichtgefallen, dieses Ensemble tradierter Lebensstile als Ausprägungen permanenter Herausforderung des Menschen zu verstehen, sich „in Form“ zu bringen, seine Persönlichkeit auszubilden, deren „Humanität“ zu steigern. Im Vergleich mit der gesellschaftlichen Entwicklung seit 1945 träte dann der „Abbau des Menschlichen“ (Konrad Lorenz) recht brutal zutage.

Da Bohrer, als einstiger FAZ-Journalist und Merkur-Herausgeber dem bundesdeutschen Juste milieu zutiefst verpflichtet, aber nicht dazu neigt, seine einleuchtenden Impressionen zur Systemkritik zu verdichten, trübt kulturpessimistische Ratlosigkeit seinen kantig gemeißelten Kontrast unvereinbarer Lebens- und Wertwelten ein. Woher soll heute, in einer ökonomistisch reduzierten Gesellschaft, der zumindest in ihrem geistig-kulturellen Haushalt die Wende hin zu nachhaltiger Energieeinsparung rundum gelungen ist, die Inspiration für die von Bohrer angeregte „neue Suche nach der verlorenen Zeit“ kommen?

Seine Analyse impliziert somit, zum 70. Jahrestag des Attentats die lediglich dekorative, politisch belanglose Erinnerung an den Widerstand gegen Hitler aus staatlicher Zuständigkeit zu verbannen und sie den Reservaten privater Vereinsmeierei zu überantworten.

Fotos: Europafest am Brandenburger Tor in Berlin im Mai 2014; Werbeplakat der Bigband der Bundeswehr: Unüberwindliche Gräben zur Vergangenheit; Unterricht in der Preußischen Hauptkadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde um 1900 (o.), Hochzeit Claus Schenk Graf von Stauffenbergs, Bamberg 1933: „Völlig jenseits unserer Erfahrung“ liegende Körperhaltungen, Sprechweisen und Umgangsformen

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