© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/14 / 25. Juli 2014

Zurück in die Geschichte
Was der Erste Weltkrieg mit unserer politischen Situation von heute zu tun hat – und was nicht
Karlheinz Weissmann

Wenn die Aktualität der Ereignisse vom Sommer 1914 diskutiert wird, geht es vor allem um drei Aspekte: Erstens, der Zusammenprall der europäischen Großmächte gehört einer anderen Epoche an; die liegt hinter uns, wir haben unsere Lektion gelernt, nie wieder Krieg. Zweitens, die Julikrise ähnelt gewissen Ereignissen der Gegenwart – etwa der Krim-Krise –, weshalb alles getan werden muß, um deeskalierend zu wirken und das „Hineinschlittern“ in einen Konflikt zu verhindern, alles ist möglich. Drittens, der Nationalismus erhebt sein schreckliches Haupt, wie an der Jahrhundertwende, er ist der Hauptschuldige am „großen Krieg“, wehret den Anfängen.

Wir könnten die dahinterstehenden Denkfiguren die optimistische, die skeptische und die moralisierende nennen. Faktisch taugen sie alle nicht, denn sie verkennen die eigentliche Dimension der damaligen Ereignisse: die historische. Mit anderen Worten: Sie verkennen, daß die Vorgänge, die den alten Kontinent in den Abgrund stürzten, nicht einfach das Ergebnis planvollen – planvoll bösen – menschlichen Handelns waren, daß die militärischen, ökonomischen, weltanschaulichen Strukturen, in die eingebettet sie abliefen, kaum Zufälliges an sich hatten, und daß es deshalb auch nicht möglich ist, aus dem, was damals geschah, ein Modell zu entwickeln, um ähnliche Katastrophen in Zukunft zu verhindern.

Die Geschichte wird mißverstanden als Rezeptsammlung, aber sie „macht nicht klug für ein andermal, sondern weise für immer“ (Jacob Burckhardt).

Weise für immer macht sie, wenn man Analogien sorgsam bestimmt, und das heißt im konkreten Fall, wenn man sich zuerst von der Fixierung auf den Vordergrund freimacht. Es geht 2014 jedenfalls nicht um Kabalen in der Europäischen Union, nicht um den Balkan oder den slawischen Raum, nicht einmal um Europa im ganzen oder um den Westen, sondern um die Frage, was aus jener Ordnung wird, die als Folge des Ersten Weltkriegs entstand. Die war gekennzeichnet vom Kampf der Ideologien Demokratie, Kommunismus und Faschismus, dann von der Auseinandersetzung der „Supermächte“ Amerika und Sowjetunion, aber vor allem hat der Erste Weltkrieg den Übergang vom europäischen zum Weltstaatensystem eingeleitet.

Damit veränderte sich eine Situation dramatisch, die seit dem Zeitalter der Entdeckungen und der großen Landnahme in Übersee selbstverständliche Voraussetzung jeder Politik von Gewicht gewesen war. Der Kriegseintritt Japans 1914 und der Vereinigten Staaten 1917 hat die Situation ein für allemal verändert und einen Prozeß in Gang gebracht, an dessen Ende obskure politische Prophezeiungen von der „Stunde der Angelsachsen“, der „gelben Gefahr“, der „farbigen Weltrevolution“ oder der Entstehung eines „Skythentums“ auf dem Boden Eurasiens in neuem Licht erscheinen.

Wichtiger als apokalyptische Visionen sind aber die Ähnlichkeiten in bezug auf die Lage der Hegemonialmächte Großbritannien damals, Amerikas heute. Beide konnten ihre Stellung für beeindruckend lange Zeit wahren, weil sie hard power und soft power auf geschickte Weise mischten: Kontrolle der Verkehrswege, Verfügung über Gegenküsten und Stützpunkte, moderne Bewaffnung und skrupellose Ausnutzung etwaiger Alliierter einerseits, ein kaum in Frage zu stellendes Sendungsbewußtsein, geschickte Anwendung des Prinzips „divide et impera – teile und herrsche“, Schwarze und Weiße Propaganda, kulturelle Infiltration und Korrumpierung etwaiger Gegner andererseits.

Allerdings besteht kein Imperium für die Ewigkeit. Irgendwann erhebt sich irgendwo ein Konkurrent, der zwar Zeit braucht, um den Vorsprung des Ersten einzuholen, dann aber mit wachsender Geschwindigkeit aufschließt: Deutschland in der Welt vor 1914, China in der Gegenwart. Das heißt auch, wer nach Parallelen fragt, sollte sein Interesse auf die Gefährdung der Pax Britannica durch Deutschland richten, um zu verstehen, was die Infragestellung der Pax Americana durch China bedeuten kann.

Die „Normalisierung“ der Verteidigungspolitik Japans und die vorsichtigen Ausgleichsbemühungen Tokios gegenüber Peking, die unsichere Situation Taiwans und die unklare Südkoreas werden von der amerikanischen Führung mit Sorge beobachtet. Die „Einkreisung“ des Gegners hat Lücken bekommen, während der chinesische Nationalismus offenbar nicht nur in der Lage ist, den Kommunismus als Staatsdoktrin zu ersetzen, sondern auch den Zusammenhalt des großen Ganzen zu gewährleisten und erhebliche Kräfte zu mobilisieren.

Trotzdem folgt daraus kein Szenario wie das, das sich aus dem rasanten Wirtschaftswachstum des Deutschen Reiches und dem Flottenrüsten vor dem Ersten Weltkrieg ergab – oder jedenfalls folgt es nicht zwingend. Die ökonomische Verflechtung nimmt weiter zu, die Vereinigten Staaten sind sich ihrer finanzpolitischen Schwäche ebenso bewußt wie ihrer militärischen Stärke. Chinas Konjunktur kann zwar wieder zulegen, aber nur um den Preis gefährlich wachsender Verschuldung, und bei aller Neigung zum Muskelspiel hat der Drache die direkte Konfrontation wie die monetäre Erpressung des Adlers immer vermieden.

Trotzdem darf man die Veränderungen, deren Zeugen wir werden, als Anzeichen dafür nehmen, daß wir wieder in einer Übergangsphase leben, wie die Zeitgenossen des Ersten Weltkriegs. Wohin der Weg führt, kann der Historiker als rückwärtsgewandter Prophet nicht beantworten. Aber er kann darauf hinweisen, daß die Erwartung, das kurze 20. Jahrhundert, das der Erste Weltkrieg einleitete, werde mit dem „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) schließen, erledigt ist. Es spricht mehr dafür, daß diejenigen recht hatten, deren Prognose lautete, daß die Geschichte wieder „darwinistisch gestimmt“ (Rudolf Augstein) sei.

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