© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/14 / 25. Juli 2014

Hügel, die nicht vergessen können
Flanderns Landschaft ist durch blutige Schlachten des Ersten Weltkriegs gezeichnet / Heute erinnern Gräber und Denkmäler an die Katastrophe
Hinrich Rohbohm

Ein unheimliches Heulen und Pfeifen ertönt im Tunnel. Der dunkle Gang nimmt seine Besucher mit einer beklemmend wirkenden Kühle in Empfang. Dabei herrschen draußen vor dem röhrenförmigen Bauwerk sommerliche 25 Grad. Plötzlich flackern Schwarzweißbilder auf. Auf Bildschirmen erscheinen Äcker, die noch kühler und beklemmender wirken als der Tunnel selbst. Felder, die im Nebel liegen. Dann, kurz, reißen die grauweißen Schwadenschleier auf. Die Stimmung wird noch gespenstischer. Unter dem Heulen und Pfeifen gibt der sich lichtende Nebel den Blick auf mehrere Menschen Preis, die wie Geisterwesen regungslos in der Mitte des Bildes verharren. Nur ihre Silhouetten sind zu erkennen, die einem einen eiskalten Schauer über den Rücken jagen. Es sind die trauernden Soldaten, die als Denkmal auf dem Soldatenfriedhof Langemark stehen, zu dem der Besucher am Ende des Tunnels über einen baumgesäumten Weg gelangt.

Langemark und die Stadt Ypern, das sind Orte, die vor hundert Jahren Schauplatz der großen Flandernschlachten wurden. Zwischen 1914 und 1918 lagen sich hier die Armeen Deutschlands, Großbritanniens aber auch Frankreichs in einem unerbittlichen Stellungskrieg in ihren Schützengräben gegenüber, liefen in die Maschinengewehre des Feindes oder kamen durch Minen, Gas oder Granatenhagel ums Leben. Heute erinnern dutzende Denkmäler und Soldatenfriedhöfe an die einstigen Schrecken. Für Deutschland ist es der Soldatenfriedhof von Langemark, der den Kampf der kaiserlichen Truppen in Flandern wachruft.

Deutsche Studentenvertreter hatten in den zwanziger Jahren die einstigen Kampfstätten bereist. Dabei waren ihnen die zahlreichen gut gepflegten Soldatenfriedhöfe der Alliierten aufgefallen, während deutsche Gefallene seinerzeit noch in von Unkraut überwucherten Gräbern mit umgefallenen Kreuzen lagen. Die Deutsche Studentenschaft wollte das ändern, sammelte Spenden. Gemeinsam mit dem amtlichen deutschen Gräberdienst, dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge sowie den Traditionsvereinen vieler Regimenter konnte 1932 ein zentraler Friedhof für deutsche Gefallene errichtet werden.

Heute liegen hier die sterblichen Überreste von 44.300 deutschen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg begraben. Mehr als die Hälfte von ihnen in einem Gemeinschaftsgrab, das sich neben dem vier Meter hohen, aus Wesersandstein errichteten Eingangsportal befindet. In einem Gedenkraum des Portals liegt auf einem Tisch ein Kondolenzbuch, in dem sich Besucher mit Namen sowie Respekts- und Trauerbekundungen eintragen können. Zahlreiche Briten sind hier aufgeführt. Mehr als Deutsche. Auch an den Grabsteinen liegen deutlich mehr rote Mohnblumen – sogenannte „Poppys“- mit englischsprachigen Respektsbekundungen. Das Wort „Respect“ gegenüber dem ehemaligen Feind steht dabei auf ungewöhnlich vielen Schleifen und Zetteln.

„Uns Deutschen ist das Gefühl abhanden gekommen, die Erinnerung an unsere Soldaten in Ehren zu halten“, meint ein Rentner aus Aachen. Mehrmals im Jahr fährt der 77jährige mit seinem Auto nach Flandern, schaut sich die einstigen Kriegsstätten an. Sein Großvater sei hier zwischen 1914 und 1918 noch dabeigewesen, verrät er.

„Ja, jetzt wo der Erste Weltkrieg hundert Jahre her ist, da interessieren sich auch mal unsere deutschen Politiker dafür.“ Doch ansonsten würde sich das Gedenken an die gefallenen Soldaten in Deutschland sehr in Grenzen halten, bemängelt der Mann. Unweit von ihm steht eine ebenfalls ältere Britin am Gemeinschaftsgrab. In ihrer Hand hält sie ein Holzkreuz, auf dem ein Zettel und eine dieser künstlichen „Poppy“-Mohnblumen befestigt ist. Ehrfürchtig legt sie das Kreuz am Grab ab. „Es ist einfach eine Frage des Respekts, auch dem einstigen Feind gegenüber. Schließlich haben die deutschen Frontkämpfer genauso heftig gelitten wie es unsere Soldaten taten“, erklärt die Frau.

Einzelschicksale in einem Armband gespeichert

Zehn Kilometer von Langemark entfernt, in Ypern, ist von derlei Ehrfurcht auf den ersten Blick nur wenig zu spüren. Dutzende Reisebusse kommen oder fahren wieder ab, besetzt mit Schulklassen aus diversen Ländern. Britisches, französisches, deutsches und niederländisches Stimmengewirr erfüllt den Marktplatz jener 35.000 Einwohner zählenden und während des Ersten Weltkriegs hart umkämpften Stadt. Hier befindet sich auch das Gewandhaus mit seinen Tuchhallen, die sogenannte Lakenhal. Es zählt zu den größten profanen gotischen Gebäudekomplexen in Europa. Neben dem Rathaus und dem touristischen Informationsbüro ist hier das „In Flanders Fields“-Museum untergebracht, in dem dichtes Gedränge herrscht. „War aus deiner Familie jemand dabei?“ fragen sich Schüler gegenseitig. Gemeint ist, ob ein Familienangehöriger während des Ersten Weltkriegs in Belgien gefallen war. Das nämlich können Besucher des Museums mit Hilfe ihres elektronischen Poppy-Armbandes herausfinden, das sie am Eingang erhalten haben. Zahlreiche der Ausstellungsstücke, zu denen unter anderem Uniformen und Helme sowie Fuhrwagen und ein altes Geschütz aus der Zeit des Ersten Weltkriegs gehören, sind mit einem Wi-Fi-Symbol gekennzeichnet. Hält der Besucher das Armband dagegen, so kann er entsprechende Informationen darüber auf einem Bildschirm abrufen. Außerdem sind in jedem der Armbänder die Geschichten über jeweils vier Einzelschicksale von Menschen gespeichert, die während des Krieges in Ypern gelebt haben.

In der Mitte der Tuchhallen führen hinter Türen zwei Wendeltreppen mit über 200 Stufen den Belfried, einen 70 Meter hohen Glockenturm, hinauf. Er ist Teil des Unesco-Welterbes und eröffnet dem Besucher einen fantastischen Blick über die Hügellandschaft Flanderns.

Etwa zum Hügel 62, der sich im Südosten von Ypern befindet. Der Hügel war vor hundert Jahren ein wichtiger strategischer Punkt während der Flandernschlachten und zwischen den Deutschen und der Canadian Expeditionary Force stark umkämpft gewesen. Neben einer kanadischen Gedenkstätte gibt es hier den Sanctuary Wood, in dem ein Erlebnisparcours mit rekonstruierten Schützengräben existiert. Tausende kanadische Soldaten waren in diesem Wald 1916 bei der Verteidigung von Ypern getötet worden.

Heute können Touristen hier ein wenig nacherleben, welche Torturen ein Frontsoldat zwischen Stacheldraht und bis zu brusthohem Brackwasser in den Gräben einst durchzustehen hatte. Das Nacherleben solcher Extremsituationen erfolgt jedoch auf eigene Gefahr. Der Betreiber des Parcours schließt vorsorglich jede Haftung von vornherein aus. In unmittelbarer Nähe befindet sich der Hügel 60, ein ebenso heftig umkämpfter Ort. Hier detonierte am 17. Februar 1915 die erste britische Tiefenmine.

Der Hügel wird auch als Friedhof ohne Grabsteine bezeichnet. Zwischen 1914 und 1917 lieferten sich deutsche und alliierte Truppen hier einen erbitterten Krieg in unterirdischen Tunneln. Mit Minen versuchten die Kämpfenden, die Tunnel des Feindes zum Einsturz zu bringen. Noch heute liegen zahllose namenlose Soldaten hier verschüttet und von Lehm begraben.

„Der Krieg von damals wird nun touristisch vermarktet“

„Das waren schon schlimme Zeiten“, meint ein Ladenbesitzer in der Innenstadt von Ypern. Er kennt noch die alten Geschichten, die ihm sein Großvater früher erzählte, der sie wiederum von seinem Großvater erzählt bekam. Wie damals in Ypern erstmals Chlor- und Senfgas als Waffe zum Einsatz kam und die Menschen traumatisierte. Wie die Einwohner aus der umkämpften Stadt flohen und panisch und verzweifelt versucht hatten, ein Schiff nach England zu ergattern. Noch heute würden immer mal wieder Bauern Granaten auf ihren Feldern entdecken. Manchmal sogar noch mit scharfem Zünder.

Daß der Erste Weltkrieg auch heute noch in Ypern allgegenwärtig ist, liege aber weniger an den Granaten und den Erzählungen, sondern am Geschäft. „Der Krieg von damals wird nun touristisch vermarktet, das ist für viele eine bedeutende Einnahmequelle geworden.“ Souveniergeschäfte reihen sich heute in den Straßen der Altstadt aneinander. In den Schaufenstern stehen alte Maschinengewehre, Orden, Uniformen, Pistolen und Gewehre zum Verkauf. Kaffeetassen sind mit der roten Poppy-Mohnblume bedruckt, Weinflaschen mit dem Bild eines alliierten Soldaten versehen. Touristen gehen in den Läden ein und aus, kaufen sich Andenken und stehen mit gezückten Kameras vor dem Meenenport, jenem Mahnmal, das an die toten Soldaten aus den Commonwealth-Staaten erinnert.

Seit 1928 wird hier jeden Abend um 20 Uhr der Zapfenstreich, der „Last Post“ trompetet. Das Ritual zählt inzwischen zu einer der touristischen Hauptattraktionen Yperns. Das Tor steht an jener Stelle, an der einst das slte Stadttor von Ypern stand, durch das britische Truppen während des Krieges täglich hinaus auf das Schlachtfeld zogen. Das Innere des Tores ist mit über 50.000 Namen britischer Soldaten versehen, die bei Ypern ihr Leben lassen mußten und von denen die Grabstellen unbekannt sind. Zahlreiche mit roten Mohnblumen versehene Kränze liegen auf den Treppenstufen. Sie stammen oft von militärischen Einheiten, die ihre gefallenen Kameraden ehren. Aber auch private Kränze, Blumen und Holzkreuze sind darunter, meist mit mahnenden Worten versehen, eine solche Tragödie niemals wieder zuzulassen.

Wieder zieht eine Schulklasse vorüber. Lauter Redeschwall. Die Inschriften und Gedenksteine beachtet die Gruppe ebensowenig wie die zahlreichen Informationstafeln. Nur ein junges Mädchen, vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt, bleibt auf der Treppe vor den Kränzen stehen und geht in sich. Es scheint, als sei ihr gerade das ganze Ausmaß des Leids bewußt geworden, das sich hier in den Schlachten um Ypern manifestiert hat. Sie senkt den Kopf, blickt zu Boden, während ihre Gruppe bereits weitergezogen ist. Dann faltet sie ihre Hände und betet.

www.greatwar.be

www.volksbund.de

www.flandern.com

www.toerisme-ieper.be

www.inflandersfields.be

www.lastpost.be

 

Poppy

Die rote Erinnerungs-Mohnblume, gilt in englischsprachigen Ländern als ein Symbol des Gedenkens an die gefallenen Soldaten aus den beiden Weltkriegen. Sie war erstmals 1920 in Umlauf gekommen und wird verkürzt als Poppy bezeichnet. Zum Gedenken an die Gefallenen sind sie an Kränzen und Holzkreuzen angebracht oder werden am Revers von Anzügen oder Jacketts getragen.

Dabei soll die Mohnblume in Anlehnung an das Gedicht „In Flanders Fields“ des Kanadiers John McCrae an die vom Blut der Soldaten des Ersten Weltkrieges geröteten Felder Flanderns erinnern. Eine zusätzliche Symbolik erlangte das Gewächs, weil damals auf den frisch aufgeschütteten Hügeln der Soldatengräber als erstes der Klatschmohn zu blühen begann. Neben der Assoziation mit der roten Farbe des Bluts der Gefallenen wird der Mohn in McCraes Gedicht auch mit der narkotisierenden Wirkung des Schlafmohns in Zusammenhang gebracht. Aus dem Schlafmohn konnte Morphium gewonnen werden, das als Schmerzmittel für schwerverwundete Soldaten diente.

Fotos: Wahrzeichen der Stadt Ypern: 70 Meter hoher Glockenturm Belfried; Meenenport: Wo um 20 Uhr der „Last Post“ erklingt, marschierten vor hundert Jahren britische Truppen an die Front; Über den Dächern Yperns: Sightseeing statt Schlachten; rechts: Uniformen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs; Zerstört: Kirche und Rathaus wurden zwischen 1914 und 1918 stark beschädigt; Langemark: Deutscher Friedhof für 44.300 Gefallene; Denkmal der trauernden Soldaten: Kranzniederlegungen als Respektbekundung; Letzte Ruhestätte: Gedenkstein am Friedhofseingang

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen