© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/14 / 25. Juli 2014

„Wenn Krieg ist, ist halt Krieg“
Ukraine: Im Wust der Anschuldigungen bleibt die Wahrheit um Unglücksflug MH17 auf der Strecke
Billy Six

Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können“, kommentiert der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin das tragische Ende von Flug MH17, die größte Flugkatastrophe seit dem 11. September 2001. Die Indizien deuten auf einen Abschuß. Noch in derselben Nacht legten Hunderte Bürger der Hauptstadt Kiew Blumen vor die niederländische Botschaft. Der weitverbreiteten Wut auf Rußlands Präsidenten Putin folgte besinnliche Stille sowie ein milder Geruch von verbranntem Kerzenwachs.

Der Stimmung entsprechend bekräftigte Klimkin auf einer Pressekonferenz vor internationalen Medienvertretern die Sicht der ukrainischen Führung, feindliche prorussische Separatisten hätten die Maschine mit einer aus Rußland gelieferten Buk-Raketenbatterie vom Himmel geholt. „Die Mehrheit der Terroristen sind Russen. Im Sinne des internationalen Rechts ist dies ein Akt der Aggression“, unterstreicht der Chefdiplomat und vermeidet trotz Nachfragen die Feststellung des Kriegszustandes mit dem Nachbarn. Verpackt in diplomatischen Floskeln verdeutlicht er die außenpolitischen Ziele der Kiewer Führung: härtere Sanktionen gegen Rußland und die internationale Einordnung der „Volksrepublik“-Kämpfer von Donezk und Lugansk als „Terroristen“.

Klimkins neuer Kollege in London, Philip Hammond, sieht Moskau bereits auf dem Weg zu einem „Paria-Staat“ – und reiht sich mit Australien, das selbst viele Opfer beim Absturz zu beklagen hat, Polen, Rumänien und den Balten in die Reihe der Falken. Noch wirkt das EU-Fundament aus Deutschland und Frankreich bremsend. Paris hält gar an der umstrittenen Lieferung zweier „Mistral“-Kampfschiffe fest.

US-Präsident Obama sieht dagegen einen „Weckruf für Europa und für die Welt“ und plant die stets angedrohte dritte Sanktionsrunde – nicht mehr nur gegen Einzelpersonen, sondern ganze Organisationen und Firmen aus Rußland. Die Vereinigten Staaten sprachen als erste externe Macht laut von Beweisen, welche die Lieferung einer russischen Raketenbatterie an die Aufständischen belegten. Doch noch wartet die Öffentlichkeit auf entsprechende Satellitenbilder.

Bei einer Hintergrund-Präsentation, ebenfalls unter Anwesenheit der JUNGEN FREIHEIT, erklärt der ukrainische Generalleutnant der Reserve Igor Romanenko, er sei sich „zu 99 Prozent sicher“, daß das motorisierte Buk-System mit aufmontierten sechs Meter langen Raketen nicht aus ukrainischen, sondern aus russischen Beständen stammte. „Der normale Separatist“, so der Militär, „ist nicht in der Lage, das System allein zu nutzen.“

Es seien, so berichtet er aus eigener Erfahrung in der sowjetischen Roten Armee, spezielle Ausbildung, Schußerfahrung und koordinierende Offiziere nötig. „Die Terroristen waren enthusiastisch über die Abschüsse der vergangenen Tage“, deren Zahl die Regierung auf 14 Flieger und Hubschrauber beziffert. „Sie haben möglicherweise geglaubt, das wäre wieder ein Transportflugzeug“, so Romanenko. Ein Unfall also. Doch warum die vermeintlich notwendigen Experten nicht in der Lage gewesen sein sollen, zwischen einer zivilen Boeing und einem Militärtransporter zu unterscheiden, bleibt vorerst ein Rätsel.

Der internationale Aufschrei versetzt den Separatisten in ihrem Traum von „Neurußland“ einen schweren Schlag. Eine weitere Isolierung Rußlands und verstärkte ausländische Hilfe für die Kiewer Regierung würde den Druck auf sie verstärken. Ihr Gegner, die ukrainische Armee, befindet sich in einem schlechten Zustand. Schon der von Rußland betriebenen Krim-Abspaltung konnte sie nichts entgegensetzen. Nun sammeln Freiwillige auf dem Kiewer Maidan Spenden, um die Truppen zu versorgen. Die Eroberung von Slowiansk war kampflos erfolgt. An den Millionenstädten Donezk und Lugansk beißen sich die Einheiten des neuen Präsidenten Poroschenko bisher die Zähne aus.

Moskau präsentiert Ukraine als Drahtzieher

Rußland versucht derweil in die Offensive zu gehen. Den australischen Vorschlag einer UN-Resolution mit Forderung nach Aufklärung und Verurteilung der Täter unterstützte Rußland. Moskau legte dazu eine eigene Version des Tathergangs vor: Nicht nur, daß die ukrainische Führung unfähig sei, den eigenen Luftraum zu sichern … ihr Militär habe die Boeing selbst abgeschossen. Ein ukrainischer Jagdflieger habe sich drei bis fünf Kilometer angenähert – dann sei MH17 vom Radar verschwunden.

Kurz nach Bekanntgabe der einstimmig verabschiedeten Resolution des Uno-Sicherheitsrats übergab Alexander Borodaj, selbsternannter „Premierminister“ der Donezker Republik, die Flugschreiber der Boeing.

Experten rechnen mit monatelangen Ermittlungen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Niki Lauda, nicht nur Formel-1-Weltmeister, sondern auch Pilot und früher Betreiber einer eigenen Fluglinie, erklärte gegenüber dem österreichischen Kurier, der jüngst an malaysische Delegierte übergebene Flugschreiber würde nicht helfen, das externe Ereignis aufzuklären. Was die internationale Luftfahrt aus der Tragödie lernen könne, so Lauda, sei die generelle Sperrung von Flugkorridoren über Krisengebieten: „Wenn Krieg ist, ist halt Krieg.“

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