© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/14 / 25. Juli 2014

Poincaré war auf Krieg aus
In der Julikrise 1914 nutzte Frankreich jede Gelegenheit, um den gegen Deutschland gerichteten Konflikt zu schüren
Werner Lehfeldt

Unter den in jüngerer Zeit veröffentlichten Untersuchungen zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs verdient Stefan Schmidts Buch „Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914“ besondere Beachtung. Mehrfach hebt der Autor hervor, daß der französische Staatspräsident Raymond Poincaré während seines Staatsbesuchs in Sankt Petersburg vom 20. bis zum 23. Juli dem Zaren die uneingeschränkte politische und militärische Unterstützung Frankreichs für den Fall eines Krieges mit Österreich-Ungarn und so auch mit Deutschland zugesagt hat, ohne in diesem Zusammenhang den geringsten mäßigenden Einfluß auszuüben. Ganz im Gegenteil forderte er Nikolaus II. auf, Drohungen Wiens entschlossen entgegenzutreten. Dem österreichisch-ungarischen Botschafter in Rußland erklärte er, daß ein Staat, hier also Serbien, nicht für die Verbrechen einzelner Individuen verantwortlich gemacht werden könne, und außerdem habe Serbien auch Freunde.

Diese Konfrontationsstrategie Poincarés wurde am 25. Juli durch den Botschafter Maurice Paléologue noch nachdrücklicher bestätigt. Nur aufgrund dieses uneingeschränkten Beistandsversprechens seines Bündnispartners konnte Rußland am 24./25. Juli die Entscheidung treffen, sich „notfalls“ militärisch für seinen serbischen Protegé zu engagieren, da zu diesem Zeitpunkt die Haltung Großbritanniens in dem heraufziehenden Konflikt noch unentschieden war.

Paris war auf russische Militärmacht angewiesen

Der Autor vertritt und begründet die Ansicht, daß sich das Zarenreich kaum zu einer solchen Unterstützung Serbiens entschlossen haben würde, hätte Frankreich ihm nicht zuvor im Zuge einer Politik der fermeté (Entschlossenheit) seinen militärischen Beistand zugesichert.

Hauptmotiv für den äußerst risikobehafteten Kurs Poincarés bildete der seit 1911 von der militärischen und der politischen Führung Frankreichs den militärischen Planungen zugrundegelegte Primat des uneingeschränkten Angriffs im Falle eines Kriegs mit Deutschland. Eine signifikante numerische Überlegenheit, die den Erfolg einer solchen Strategie sicherzustellen vermochte, würde sich nur unter den Bedingungen einer britischen oder russischen Intervention ergeben. Da Frankreich im Juli 1914 nicht mit einer unmittelbaren britischen Festlegung zu seinen Gunsten rechnen konnte, kam Rußland eine um so größere Bedeutung zu.

Um Deutschland mit dem Odium des Aggressors zu belasten, verzichtete die Staatsführung auf eine unmittelbar zu Kriegsbeginn erfolgende Invasion Belgiens und war somit gezwungen, eine ausgesprochen riskante Offensive in Lothringen ins Auge zu fassen. Eben wegen dieses großen Risikos mußte den Absichten Rußlands eine erhebliche Bedeutung zuwachsen. Nach französischer Ansicht war es unbedingt notwendig, den gemeinsamen Angriff gegen das Zentrum des Deutschen Reiches zu führen, weshalb die Eroberung der Weichsellinie zum primären strategischen Ziel erklärt wurde.

Indem die Führung Frankreichs auf einer Planung beharrte, die den militärischen Triumph Frankreichs garantieren sollte, wurden die Aufrüstung und der Ausbau der militärischen Infrastruktur Rußlands erforderlich, den voranzutreiben das primäre Ziel des Botschafters Paléologue war. Durch diese Politik geriet Frankreich aber in Abhängigkeit von seinem Bündnispartner. Dieses Abhängigkeitsverhältnis wurde noch verstärkt durch die Sorge, daß sich Rußland aufgrund seiner kontinuierlich wachsenden Macht dem Einfluß Frankreichs entziehen werde.

Tatsächlich zeigte sich schon in den letzten Vorkriegsjahren und dann unmittelbar zu Kriegsbeginn, daß Rußlands außenpolitische Absichten den französischen Wünschen diametral widersprachen, daß beide Bündnispartner offensichtlich unterschiedliche Prioritäten verfolgten. Rußland strebte in erster Linie einen militärischen Erfolg gegen die Habsburgermonarchie an, weil ein solcher, primär in Galizien zu erzielender Erfolg seinen imperialen Zielen den Weg ebnen würde, die auf dem Balkan und am Bosporus lagen, wo Rußland endlich die Kontrolle über die Meerengen zu erlangen trachtete. Daher beabsichtigte Rußland, in der ersten Phase der militärischen Auseinandersetzung mit den Mittelmächten zunächst Österreich-Ungarn auszuschalten und erst in einem fortgeschrittenen Stadium gegen das dann geschwächte und isolierte Deutsche Reich vorzugehen. Aus französischer Sicht war die russische Invasion Ostpreußens, wie sie zu Kriegsbeginn auch wirklich erfolgte, ein Grundfehler, da sie geeignet war, im Falle einer Niederlage Frankreichs den Triumph der Allianz aufs Spiel zu setzen.

Annäherung an Deutschland rasch ein Ende bereitet

Die bündnispolitische Zwangslage, in die sich Frankreich im Sommer 1914 versetzt sah und die nach Auffassung Poincarés und Paléologues eine zu allem entschlossene Unterstützung Rußlands erforderlich machte, hatte sich auch daraus ergeben, daß sich Frankreich bis dahin jeder Möglichkeit begeben hatte, den deutsch-französischen Antagonismus einzudämmen. Insbesondere Poincaré hatte schon in seiner Amtszeit als Ministerpräsident und gleichzeitiger Außenminister (Januar 1912 bis Januar 1913) Bemühungen, die nach einer grundsätzlichen Annäherung an das Deutsche Reich strebten, rasch ein Ende bereitet.

Als in der letzten Phase der Julikrise der Zar zögerte, die seit dem 24./25. Juli laufende vorgebliche Teilmobilmachung zur Generalmobilmachung zu transformieren, und er seine bereits gegebene Unterschrift noch einmal zurückzog, hätte eine entschlossene Warnung Frankreichs den Monarchen in seinem Widerstand gegen die zum Krieg entschlossene Militärführung und Außenminister Sergej Sasonow bestärkt und einem friedlichen Arrangement in letzter Minute eine Aussicht auf Erfolg eröffnet, zumal Deutschland in diesem Krisenstadium begann, mäßigend auf Österreich-Ungarn einzuwirken. Eine solche Warnung unterblieb jedoch, auch deshalb, weil es Paléologue bewußt unterließ, seine Regierung über die drohende russische Generalmobilmachung zu informieren, von der jedermann wußte, daß sie den Krieg bedeutete.

Stefan Schmidt: Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914. Oldenbourg Verlag München 2009, gebunden, 434 Seiten, 49,80 Euro

Foto: Französische Soldaten, Januar 1915: Primat des uneingeschränkten Angriffs nur mit Alliierten möglich

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