© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/14 / 25. Juli 2014

Von der Steppe aufgesogen
Der Historiker Wulf Wagner spiegelt in dem imposanten Werk über das Rittergut Truntlack die untergegangene Güterkultur Ostpreußens
Thorsten Hinz

Genau 499 Jahre, bis 1945, währte die Geschichte des Rittergutes Truntlack im Kreis Gerdauen in Ostpreußen. 1446 erstmals erwähnt, war Truntlack die letzte Gründung des Deutschen Ordens. Kurz darauf muß es in Besitz des Georg I. von Schlieben gekommen sein. Zwar nicht immer in direkter Linie, blieb es über 13 Generationen hinweg im Familienbesitz. Truntlack gehörte zum Kirchspiel der nahen Kleinstadt Nordenburg, in die ein unbefestigter Landweg führte, der nur mit einem Pferdefuhrwerk zu befahren war.

Es war eine Welt, wie sie in den Romanen Eduard von Keyserlings, des Chronisten des deutsch-baltischen Adels, aufscheint. Zum Rittergut gehörten rund eintausend Hektar Land. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert wurde ein stattliches Herrenhaus errichtet, das samt Inneneinrichtung 300 Jahre lang erhalten blieb. Im repräsentativen Königszimmer – so will es zumindest die Überlieferung – soll Friedrich der Große mit der Hausherrin Kakao getrunken haben. Bei einer Volkszählung 1900 wurden in Truntlack und seinen Vorwerken 164 Einwohner erfaßt, ein Drittel weniger als noch 1872.

Truntlack existiert nicht mehr. Das Gutshaus ist ganz vom Erdboden verschwunden, nur die vier Linden, die die Freitreppe und die Terrasse säumten, leisten den Ortskundigen Orientierungshilfe. Die Ländereien werden von der russisch-polnischen Grenze zerschnitten. Orte wie Truntlack gibt es in Nordostpreußen zuhauf. Für sie sind die Verse Gottfried Benns von 1948 wie geschaffen: „Wenn die Brücken, wenn die Bogen / von der Steppe aufgesogen / und die Burg im Sand verrinnt, / wenn die Häuser leer geworden, / wenn die Heere, wenn die Horden /über unseren Gräbern sind –“ Dann, ja dann braucht es Geschichtsarchäologen, die die verwehten Spuren kenntlich machen. Sie haben gegen zweierlei Hinterlassenschaften zu kämpfen: die der Heere der Roten Armee und russischen Neusiedler, die mit dem Vorgefundenen nichts anzufangen wußten und es verkommen ließen, und die der Skribentenhorden in den Historischen Instituten und Kommissionen, den Redaktionsbüros und bei Wikipedia, die das Zerstörungswerk auf andere Weise fortsetzen. Gibt man bei Wikipedia zum Beispiel „Truntlack“ ein, wird man auf „Krylowo“ (Nordenburg), eine „Ortschaft in der russischen Oblast Kaliningrad“, verwiesen. Der materiellen Zerstörung der Stadt – die erst nach Kriegsende stattfand – folgt die Reduktion ihrer deutschen Historie auf die bloße Vorgeschichte der (trostlosen) Gegenwart. Gegen solche Tendenzen anzureden gleicht dem Versuch, hereinbrechende Schlammlawinen mit einem Regenschirm aufzuhalten.

Der Berliner Kunsthistoriker Wulf D. Wagner geht auf solche Entwicklungen höchstens indirekt ein, er will sich nicht an ihnen verkämpfen. Ihm geht es um Größeres, Wesentliches, um die Erforschung und Nacherzählung dessen, was war. Unter den Geschichtsarchäologen ist er der wohl eifrigste. Aus seiner Feder stammen bereits ein zweibändiges Standardwerk zum Königsberger Schloß sowie drei Bücher über die Güter im Kreis Gerdauen. Sie sind mit einem uneinholbaren Aufwand und soviel Akkuratesse recherchiert, verfaßt und erstellt worden, daß sie gewiß noch in hundert Jahren die Standardwerke zum Thema bilden werden. Die zwei großformatigen Bände über das Rittergut Truntlack reihen sich würdig ein.

Forschung müßte eigentlich staatliche Aufgabe sein

Im Miniaturkosmos eines nicht einmal sonderlich großen Gutes spiegelt Wagner die Familien-, Landes-, Sozial- und Kulturgeschichte einer agrarisch, traditionell und halbfeudal geprägten Welt. Er stand vor enormen Schwierigkeiten: Das Gutsarchiv wurde 1945 meistenteils vernichtet, bei den Möbeln, Bildern, Porträts, Haushaltsgegenständen ist – jedenfalls bis heute – ein Totalverlust zu beklagen. Truntlack bildet keine Ausnahme, sondern die ostpreußische Regel. Geblieben sind vereinzelte Erinnerungsstücke, persönliche Papiere, Fotos sowie eine Anzahl Briefe, in denen die Truntlacker ihren Verwandten im Westen über das Geschehen auf dem Gut berichteten.

Manches läßt sich auch aus den Aktenbeständen rekonstruieren, die im Preußischen Geheimen Staats- oder im Bundesarchiv lagern. Außerdem hat Wagner letzte, hochbetagte Zeitzeugen befragt. Mehr als 250 Fotos, Abbildungen und rekonstruierte Grundrisse, in denen sogar die Möblierung der Zimmer nachgezeichnet ist, verleihen der Darstellung eine große Anschaulichkeit.

Truntlack überstand den Siebenjährigen Krieg, der zur russischen Besatzung Ostpreußens führte und den napoleonischen Feldzug. 1885 verfügte der ehe- und kinderlos gebliebene 96jährige Besitzer Ludwig von Wernsdorff, der noch an den Freiheitskriegen teilgenommen hatte, die Überführung des Gutes in eine Familienstiftung. Als er zwei Jahre später starb, ging Truntlack an seinen Neffen Alfred Baron von Heyking über. 1914 endete für Ostpreußen eine 100jährige Friedensperiode, weite Teile Ostpreußens und auch Truntlack gerieten vorübergehend in russische Hand. Die wirtschaftliche Lage war schon vor dem Krieg schwierig gewesen, und sie blieb es bis zum Schluß. Fallende Getreidepreise, Brände, Geldnot, die Sorge um Fälligkeiten und Umschuldungen, die Einquartierungen während des Krieges hielten die Besitzer in Bewegung.

Politisch war man preußisch und konservativ einsgestellt. Baron von Heykings Großneffe Joachim von Eichhorn allerdings, der als Erbe vorgesehen war, war 1931 kaum zwanzigjährig der NSDAP beigetreten. Die Fotos zeigen einen freundlichen, sensibel und idealistisch wirkenden jungen Mann. Nach der Machtergreifung wurde er auf einem SA-Sportlehrgang von den Vorgesetzten, die ihm seine adlige Herkunft vorwarfen, gemobbt. Im März 1934 beging er mit seiner Pistole Suizid. Alle folgenden Diskussionen um die Zukunft Truntlacks wurden durch die weiteren Ereignisse zur Makulatur. Man kann die Briefe, die in den letzten Jahren von hier abgingen, unmöglich ohne Ergriffenheit lesen. Der Kriegsbeginn 1939 und der Angriff auf die Sowjetunion wurden von bangen Ahnungen begleitet, die sich schließlich zur Gewißheit verdichteten, daß alles verloren war. Der letzte Brief wurde am 14. Januar 1945 geschrieben, sechs Tage später – viel zu spät – begaben die Truntlacker sich auf die Flucht. Der 85jährige Baron von Heyking erlag im Februar 1945 in Rastenburg den Strapazen, seine 82jährige Schwester verendete am 9. August 1945 in Heiligenlinde im Ermland qualvoll am Hungertyphus, ihre Tochter gelangte Ende 1946 in die Westzonen.

Der Rest sind Verfall und Abriß vor Ort und in der jungen Bundesrepublik die Bemühungen um Mittel aus dem Lastenausgleich. Truntlack ist von der Natur zurückerobert. Auch die Nordenburger Kirche, in der sich die Familiengruft der Truntlack-Besitzer befand, ist bis auf den Turm verschwunden. „Eines läßt sich nicht vertreiben: / dieser Stätte Male bleiben / Löwen noch im Wüstensand, / wenn die Mauern niederbrechen, / werden noch die Trümmer sprechen / von dem großen Abendland“, heißt es bei Benn. Wenn aber – wie hier – nicht einmal mehr Trümmer da sind, dann braucht es Besessene und Partisanen, die die Male sichtbar machen und zu deuten verstehen. Wagner forscht und schreibt als Einzelkämpfer, als freier Autor ohne öffentliche Förderung und Absicherung.

Neben der Bewunderung für Wagners Leistung erfaßt einer aber auch Erbitterung. Es wäre eine gesamtstaatliche Aufgabe gewesen, über jedes Gut, über jede Stadt und jedes Dorf im deutschen Osten etwas Vergleichbares in Auftrag zu geben. Aus der Distanz läßt sich erkennen, daß die Bundesrepublik aus ihrer Zweckbestimmung, ihrem Selbstverständnis und tiefsten Wollen heraus dazu niemals fähig gewesen ist.

Versagt hat aber auch der Bund der Vertriebenen unter seiner Noch-Präsidentin Erika Steinbach, der seine letzten Energien und Möglichkeiten an das gescheiterte Projekt des „Zentrums gegen Vertreibungen“ und seine Erwartungen an eine Kanzlerin verschwendet hat, die zu kultureller und historischer Empathie gänzlich unfähig ist. Hätte er sich stattdessen auf das Machbare beschränkt: auf die Errichtung einer Zentralstelle für Privatnachlässe und Heimatstubenarchive, auf die Vergabe von Aufträgen an Historiker, die Zeitzeugen befragen und Chroniken verfassen usw.

Man möchte hoffen, daß dieses großartige Buch über Truntlack auch in dieser Hinsicht inspirierend wirkt.

Wulf D. Wagner: Das Rittergut Truntlack 1446–1945. 499 Jahre Geschichte eines ostpreußischen Gutes. Husum Verlag, Husum 2014, 2 Bände, 756 Seiten, Abbildungen, 49,95 Euro

Foto: Baron von Heyking vor dem Herrenhaus in Truntlack Ende der dreißiger Jahre (l.); Truntlack heute (o.): Es sind nicht einmal mehr Trümmer da

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