© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/14 / 08. August 2014

Die 64er
Mitten in der Mitte des Lebens: Eine Generationwird fünfzig / Nie war die Zahl der Geburten im Nachkriegsdeutschland höher als 1964
Felix Dirsch

Die „64er“ werden nicht durch generationenspezifische Narrative zusammengehalten, wie das bei der Alterskohorte der später so genannten „68er“ der Fall ist. Daher ist diese Bezeichnung unüblich. Freilich hat der Jahrgang 1964 bis heute eine demographische Symbolwirkung. 1.357.304 Kinder erblickten in Ost- und Westdeutschland das Licht der Welt. Ein Vergleich mit der Geburtenzahl 2006, in dem die mittlerweile 42jährigen die fröhliche Fußballweltmeisterschaft feiern konnten, belegt das Ausmaß der Schrumpfung. Die Kreißsäle verzeichneten in diesem Jahr weniger als halb so viele Neugeborene.

Diese Entwicklung blieb nicht ohne Folgen. Weil die Eltern der 64er wesentlich mehr Wert auf Nachwuchs legten als sie selbst, kam der Jahrgang vor einigen Jahren erneut in die Diskussion. Er ist (jedenfalls nach ursprünglichen Plänen) der erste, der bis zum 67. Lebensjahr arbeiten muß, um eine abschlagsfreie Rente zu erhalten. Über die Gründe des vielzitierten „youth bulge“ und des anschließenden Rückgangs braucht nicht viel gerätselt werden. Nicht wenige der Eltern der 64er mußten aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse im Krieg – zumeist aber eher aufgrund der kärglichen Verhältnisse im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland – ihre Kinderwünsche zurückstellen. Um so erfreulicher war es für diese Altersgruppe, daß sich nicht nur die ökonomische Situation der Familien spürbar besserte, sondern auch ein relativ kinderfreundliches Klima herrschte.

Dieses Motiv für Kinderwünsche wird in der demographischen Kontroverse oft übersehen. Häufig werden nur die angeblich unzureichende Betreuungslage und Schwierigkeiten bei der Partnerwahl als Grund für fehlende Kinderwünsche berücksichtigt. Die Macht des nachahmenden Verhaltens stimulierte vor einem halben Jahrhundert zusätzlich, heute motiviert sie eher zum Verzicht auf Nachwuchs.

Die traditionelle Familie war kaum umstritten

In der Tat war es in damaligen Aufschwungzeiten für Ehepaare rechtfertigungsbedürftig, gar keine Kinder oder nur ein Kind zu haben. Die traditionelle Familie, die damals die Lasten fast ausschließlich zu stemmen hatte, war seinerzeit kaum umstritten. Jahrzehnte später klagte der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz, nachdem er sein Buch „Die Helden der Familie“ (2006) publiziert hatte, das die Leistungen besonders der Frauen hervorhob, sei er im Freundeskreis isoliert gewesen. Es ist nicht selten, daß mehrköpfige Familien klagen, im Freundeskreis als asozial zu gelten.

Die Zeit um 1964 markiert, aus heutiger Sicht, den relativen Endpunkt einer längeren Entwicklung. Bis zu diesem Zeitpunkt ist der steigende Wohlstand einer der wesentlichen Gründe für die deutlich vermehrte Geburtenzahl, später mutiert er mehr und mehr zur Hauptursache des „Gebärstreiks“. Man hat mehr vom Leben, so eine verbreitete Meinung, wenn man Single oder ein kinderloses Ehepaar bleibt. In der Tat war die Trendwende schon in den sechziger Jahren absehbar: Die immer leichter verfügbaren Kontrazeptiva trugen das Ihrige dazu bei. Weiterhin sind die Rollenveränderungen im Verhältnis der Geschlechter und die vermehrte Berufstätigkeit der Frau dafür verantwortlich, daß sich das generative Verhalten änderte. Inzwischen steht längst eine Frauengeneration im fertilen Alter, die selbst deutlich weniger Angehörige aufweist als die vorherige. Bevölkerungsforscher sprechen von einer Spirale abwärts.

Die Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Möglichkeiten der meisten 64er sind überwiegend als positiv zu bewerten, trotz Schwierigkeiten beim Übergang ins Berufsleben in den 1980ern. Der Jahrgang brachte etliche bekannte Persönlichkeiten hervor. In knapper Auswahl sind Ilse Aigner, Johannes B. Kerner, Jan Josef Liefers, Kai Diekmann und die Schlagersängerin Nicole zu nennen.

In Interviews, die der Journalist Jochen Arntz (Süddeutsche Zeitung) angesichts des Jubiläums mit den betreffenden Prominenten führte, kam auch der Unterschied zu den Biographien der Jüngeren zur Sprache. Diejenigen, die in den siebziger Jahren ihre Kinder- und Jugendzeit erlebten, hatten mehr Freiräume als die Generation ihrer eigenen Kinder, die ein knapperes, ergo: deutlich mehr betreuungsbedürftiges Gut darstellen. Die ganze Energie der Eltern richtet sich häufig nur auf ein Kind. Diesem verpaßt man öfter extravagante Namen, um auf seine Exklusivität aufmerksam zu machen. Avien und Chantale sind statt Thomas und Sabine angesagt, die beiden beliebtesten Namen der 1960er Jahre. Auf Bildung und Ausbildung wird tendenziell höheres Gewicht gelegt, unabhängig davon, ob es sich um Jungen oder Mädchen handelt. Letztere zogen zumeist früher den kürzeren.

Fernsehserien und Musik prägten ein Lebensgefühl

Viele der 64er genossen es, ein begehrter Faktor der Kultur- und Konsum-industrie zu sein. Die Werbung nahm auf sie Rücksicht. Viele Fernsehserien prägten ihre Sozialisation: „Daktari“, „Flipper“, „Lassie“, „Bonanza“ und die „Waltons“, um nur wenige Beispiele zu nennen. Ähnliches gilt für die explodierende Musikszene von Abba über Smokie und The Sweet bis Pink Floyd, die das gemeinsame Lebensgefühl schufen, vergleichbar der Rolle, die Elvis und die Beatles für die Älteren spielten.

Ein intellektueller Vertreter des Jahrgangs 1964 hat die aus der Gegenwartsperspektive faszinierenden Facetten der eigenen Kinder- und Jugendzeit früh registriert und bereits 2005 Erinnerungen darüber vorgelegt. Richard David Prechts „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ verkaufte sich nicht nur gut, sondern wurde auch verfilmt. Der Moderator und Bestsellerautor erkannte, daß zwischen dem hyperpolitischen Jahrzehnt, das er in einer DKP-nahen Familie und in Zeltlagern der längst vergessenen Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend verbrachte, und der heutigen postpolitischen Öde eine tiefe Kluft liegt, die sich publizistisch nutzen ließ.

Der größtenteils entpolitisierten Generation der sozialen Netzwerke entlockt es nur ein müdes Lächeln, wenn sie den Glauben an die Heilswirkung politischer Ideale vernimmt, der seinerzeit verbreitet war. Wer, wie Familie Precht, damals neben drei eigenen Kindern noch zwei vietnamesische Vollwaisen adoptierte, damit diese dem Klassenfeind USA entkommen konnten, kann aus der pragmatischen Gegenwartsperspektive nicht anders denn als hoffnungsloser Utopist abgestempelt werden

„Deutschlands stärkster Jahrgang“ ist älter geworden. Er merkt, nicht mehr zu den Jungen zu gehören – und doch: Die gegenwärtige Lebenserwartung ist hoch. Zu Taten, gleich welchen, ist noch genug Zeit. Die Zukunft (Rentenlücke!) wird voraussichtlich schlechter sein als die Vergangenheit. Man kann noch oft darüber philosophieren, wie die Nachkommen ihr Dasein fristen werden, falls überhaupt welche vorhanden sind. Der Lauf der Dinge wird auch die 64er nicht verschonen.

Foto: Mütter mit Kindern in einem Neubauviertel in Berlin 1964: Demographische Symbolwirkung

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