© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/14 / 08. August 2014

Der Flaneur
Frau weg und nichts bemerkt
Bernd Rademacher

Wer an einer stark befahrenen Straße wohnt, wird manchmal Augenzeuge von Zusammenstößen. An Wasserstraßen ist das genauso. Auf dem Wasser sind die Unfälle zwar spektakulärer, aber führen zu weniger Personenschäden. Die Knautschzone eines Binnenschiffs ist eben robuster als die beim Pkw.

Der Pott ist rund 70 Meter lang, acht Meter breit und faßt über tausend Tonnen Last. Er hat Aluminiumschrott geladen. In Sichtweite der Schleuse gibt der Käpt’n statt abzubremsen plötzlich volle Kraft voraus. Man hört die Diesel bis zum Ufer stampfen. Die Schraube gibt mächtig Schub und der Kahn nimmt große Fahrt auf.

Freihändig steigt sie die Leiter hoch, da passiert es: Sie rutscht aus und fällt rücklings herunter.

Bis zum Schleusentor sind es noch gut vier- bis fünfhundert Meter. Sicher hat der Schleusenwärter den Schiffer über Funk aufgefordert, sich zu beeilen, weil für den nächsten Schleusengang noch ein Platz in der Kammer frei ist.

Die Frau des Kapitäns kommt vom Vorschiff und will mit einem Korb in den Händen auf die Brücke. Freihändig steigt sie die Leiter hoch, da passiert es: Sie rutscht aus, verliert das Gleichgewicht und fällt rücklings die Treppe herunter. Sie schlägt auf dem schlüpfrigen Deck auf und geht über die nur knöchelhohe Reling.

Mit einem Platsch, der im Getöse aus Maschinen, Bugwellen und Wasserwirbeln untergeht, fällt die Frau ins Wasser. Gefährlich nah am Heck! Wenn der Sog sie in die Schraube zieht ... Sie wäre nicht der erste Mensch, der an dieser Stelle so ums Leben kommt. Sie trägt keine Schwimmweste, obwohl an jedem Stromkilometer große Plakate dazu mahnen.

Der Schiffer hat von dem Vorfall nichts mitbekommen. Dafür die Spaziergänger, Angler, Ruderbootfahrer und illegalen Schwimmer – das Baden ist hier wegen Lebensgefahr verboten. Sie werfen die Arme hoch, gestikulieren, schreien: „Mann über Boooord!“

Das Boot der Wasserschutzpolizei ist noch schneller zur Stelle als die Ruderer. Die Polizisten nehmen die Verunglückte unversehrt an Bord. Nun merkt auch der Käpt’n etwas und legt die Maschinen auf volle Kraft zurück.

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