© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/14 / 15. August 2014

Wüstenstaat auf der Kippe
Libyen: Drei Jahre nach dem gewaltsamen Sturz von Machthaber Gaddafi herrschen im Land Chaos und Anarchie / Ägypten und Tunesien unter Druck
Günther Deschner

Libyen erlebt die schwersten Kämpfe seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Muammar Gaddafi vor drei Jahren. Das nordafrikanische Land versinkt in Gewalt und Chaos. Von Tripolis im Westen bis zur Cyrenaika und ihrer Hauptstadt Bengasi in der Grenzregion zu Ägypten – im ganzen Land liefern sich verfeindete Milizen heftige Gefechte.

In Tripolis kämpfen zwei konkurrierende islamistische Milizen um den Flugplatz der Hauptstadt. In den letzten beiden Wochen brannten dort immer weitere Treibstofflager lichterloh. Inzwischen bekam die libysche Übergangsregierung Hilfe von der einstigen Kolonialmacht Italien und dem Ölkonzern Eni, um die Großbrände in den Benzin- und Gasdepots mit Löschflugzeugen zu bekämpfen.

Angeblich mehr als tausend Milizen im ethnisch, religiös und sozial zerklüfteten Wüstenstaat ringen um Macht und Einfluß. Gleichzeitig kämpfen in Bengasi die Anhänger und Verbündeten des Ex-Generalmajors Chalifa Haftar mit einigen wenigen kleinen Heeres- und Luftwaffeneinheiten – und mit diskreter Unterstützung der neuen ägyptischen Regierung – gegen islamistische Milizen. Haftar wird von der Regierung in Tripolis als „Rebell“ klassifiziert, der versuche, eine Diktatur zu errichten.

Doch die libysche Regierung ist nur noch als Übergangsregierung an der Macht. Denn bereits am 25. Juni wählten die Libyer ein Parlament. Gut sechs Wochen später ist es noch immer nicht arbeitsfähig. „Demnächst“ soll das neue Parlament eine Regierung bestimmen. Wie diese aussehen und wie sie sich zu dem General und zu seinem Feldzug gegen die Islamisten stellen und wie sie das Land befrieden wird, bleibt offen.

Tunis will keine Flüchtlinge mehr aufnehmen

Nach dem, was bereits zu hören ist, soll die Wahl zuungunsten der Islamisten abgelaufen sein. Speziell die Muslimbrüder sollen spektakulär verloren haben. Entsprechend kommen libysche Kommentatoren zu dem Schluß, die politische Niederlage in den Wahlen habe zu verstärkter Aggressivität der pro-islamistischen Milizen geführt. Diese versuchten vollendete Tatsachen zu schaffen, bevor die kommende neue Regierung Maßnahmen treffen kann, um ihre Macht einzuschränken.

Vergangene Woche wählten die Abgeordneten immerhin einen neuen Parlamentspräsidenten – ein unbeschriebenes Blatt. Ein Hoffnungszeichen? Dagegen steht, daß das Parlament wegen der eskalierenden Kämpfe in und um die Hauptstadt fluchtartig ins weit entfernte und relativ sichere Tobruk ausweichen mußte, um überhaupt eine Sitzung abhalten zu können.

Zur selben Zeit verließen laut der tunesischen Nachrichtenagentur TAP jeden Tag mehrere tausend Flüchtlinge Tripolis und überschritten die Grenze zum benachbarten Tunesien. Die Regierung in Tunis hat bereits erklärt, es könne keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen.

Signal für die aktuelle Massenflucht war die überstürzte Evakuierung der US-Botschaft vor fast zwei Wochen. Frankreich und Deutschland folgten dem Beispiel und riefen ihre Diplomaten zurück. Daß nun auch die Philippinen ihre 9.000 Landsleute dringlich zur Ausreise auffordern, verschärft die aktuellen Probleme Libyens noch weiter – denn ein Großteil des medizinischen Personals stammt von den Philippinen. Sollten alle gehen, droht auch noch der Zusammenbruch des Gesundheitssystems.

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