© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/14 / 15. August 2014

Lichtstreif im Verschwörungsnebel
Ukraine: Thesen vom Einsatz russischer Scharfschützen umwabern die Toten vom Maidan, führten gar zum Regierungssturz / Spurensuche von Billy Six (Teil 1)
Billy Six

Michel Nako, tätig in der Kulturabteilung der Kiewer Stadtverwaltung, kommt regelmäßig auf den Maidan, um das Geschehen zu fotografieren. Voller Grauen erinnert er sich zurück an die Leichen auf den Straßen und ist sich sicher: „Das waren russische Spezialisten.“ Rußlands Außenminister Lawrow habe, so Nako, „ganz nach sowjetischer Mentalität“ von der ukrainischen Führung ein härteres Vorgehen gegen „die Faschisten“ verlangt.

Dieses Urteil steht bei den ukrainischen Patrioten hoch im Kurs. Die neue Führung und die Ermittlungsbehörde „Prokuratura“ befeuern allerdings eine zweite Verschwörungsversion. Innenminister Awakow: „Der wichtigste Faktor in diesem Aufstand, der Blut in Kiew vergoß und der das Land auf den Kopf stellte und schockierte, war eine dritte Kraft. Diese Kraft war keine ukrainische.“ Gesundheitsminister Musij wurde konkreter: (Nicht veröffentlichte) forensische Beweise würden darauf hindeuten, daß Scharfschützen tatsächlich in beide Richtungen gefeuert hätten, um die Lage anzuheizen. Darunter auch „russische Spezialkräfte“.

Zwei Thesen konkurrieren in den ukrainischen Wirren bis heute um Glaubwürdigkeit. Nicht umsonst wurde in der EU-vermittelten Vereinbarung zwischen Regierung und Opposition am 21. Februar eine „gemeinsame Untersuchung der jüngsten Gewaltakte“ beschlossen, überwacht vom Europarat. Sie scheiterte, und die Aufklärung der neuen Führung beschränkte sich fortan auf eine Pressekonferenz und die Anklage gegen zwölf „Berkut“-Polizisten. Nachfragen sind unerwünscht.

Recherche auf eigene Faust. „Ich dachte, wenn ich sterbe, können andere leben.“ Thomas, abgebrochenes Studium, gescheiterte Ehe. Der junge Mann zeigt den Ort seines Traumas. Roman, sein Kumpel, verblutete am 20. Februar neben ihm. Mit 19 endete sein Leben, beim Versuch mit den Maidan-Kameraden in die Institutskaja-Straße in Richtung Regierungsviertel vorzustoßen. Ausgerüstet mit Metallschilden, Schlagstöcken und Brandflaschen. Der Todesschuß sei vom Hügel des Oktoberpalastes gekommen, sagt Thomas, „dort standen 50 bis 60 Männer der Staatsmacht in 75 bis 100 Metern Entfernung“.

Videos belegen die schwarz uniformierte Angriffsmacht mit gelben Armbinden, ausgerüstet mit Schußwaffen. Doch Thomas will noch etwas ganz anderes aufgefallen sein: Mysteriöse Scharfschützen, die vom Dach des „Hotel Ukraina“ Richtung Maidan geschossen hätten. Die Geschichte ist populär. Thomas war einer derjenigen, der sie erschuf: Über sein Funktelefon warnte er vor der vermeintlichen Gefahr und heizte die Panik jenes Tages an.

Was hat er genau gesehen? „Da war ein Blitzen, ganze acht Mal, und dazu Silhouetten.“ Ein guter Scharfschütze hätte derartiges jedoch zu verhindern gewußt, sagt Waffenexperte Carsten Bothe, der selbst Ausbildungsoffizier bei der Jägertruppe der Bundeswehr war, auf Anfrage. Es erscheine jedoch „sehr wahrscheinlich“, so Bothe, daß es sich um eine Verwechslung mit dem Aufleuchten von Kameras der zahlreichen Reporter gehandelt habe, welche an den Fenstern standen. Die Hotelleitung des „Ukraina“ bestätigt: Es war „zu 99 Prozent ausgebucht“ – und die Journalisten zogen es vor, aus ihren Zimmern über das Geschehen zu berichten.

Mikola Romanjuk, Bauarbeiter und Jägersmann aus den Karpaten, hat als Mitglied der „Samooborona“ (Selbstverteidigung) von Januar bis März den Eingang des Hotels bewacht. „Nein“, insistiert er, „da gab es keine Scharfschützen im Ukraina-Hotel, auch wenn das alle erzählen.“ Alle Gepäckstücke, selbst die Handtaschen von Frauen habe man an den entscheidenden Tagen kontrolliert.

Mikola erinnert sich an den Tag nach dem großen Sterben: „Am 21. Februar hat unsere Einheit ein Zimmer im 9. Stock gestürmt, wo wir dachten, das ist ein Scharfschütze.“ Tatsächlich habe es sich jedoch um einen französischen Kameramann gehandelt, der voller Schreck das Filmen einstellte.

„Die Leute übertreiben“, sagt Elena Korneva, Vertriebschefin im Hotel Ukraina. Sie und Veranstaltungsplanerin Tatjana Merchuk nehmen sich die Zeit für drei verschiedene Treffen, Hausführung inklusive. Noch immer sind elf Kugeleinschläge in den Korridorscheiben des ersten, zweiten, vierten, siebenten, dreizehnten und vierzehnten Stockwerkes zu sehen. „Auch etwa 20 Zimmer wurden getroffen“, berichtet Korneva. Die Schäden waren nur auf der Rückseite des Gebäudes sowie in der Fassade Richtung Oktoberpalast feststellbar. Die Gebäudefront, Richtung Maidan zeigend, blieb verschont. Die Protestler schossen nicht auf das Hotel.

Durchgängig, seit Januar oder gar schon Dezember, sei die Lobby von der „Samooborona“ besetzt gewesen, bestätigen die beiden Damen. Die Staatsmacht sei während dieser Zeit nie in das Hotel eingedrungen. „Das ist auch logisch“, meint Militärexperte Carsten Bothe. „Wir haben in der Bundeswehr mit 30 Mann für 15 Monate trainiert, um eine Hausräumung durchführen zu können. Da konnte die Polizei nicht mal eben eine Spontanaktion machen – zumal bei all den Zivilisten im Hotel.“

Westliche Journalisten tun sich bis heute schwer, dies zu glauben – da es die Möglichkeit ausschließt, daß die Regierungsseite vom Hotel Ukraina aus feuern ließ. Und tatsächlich war es so, daß die Maidan-Kräfte in der Lobby und jene auf dem Platz durch den Vormarsch der Polizei für einige Stunden getrennt wurden. Auch zur jüngsten Verschwörungsthese, die (russischen) Scharfschützen hätten zivil eingecheckt, winkt Bothe ab: „Kein Profi läßt sich auf so etwas ein. Gedeckte An- und Abmarschwege sind das A und O.“ Außerdem hätten die Schützen alle Fenster öffnen müssen, um dem Gegner nicht die Chance zu bieten, die Herkunft der Projektile zu lokalisieren.

Die Hotelverwaltung informiert darüber hinaus, daß der Zugang zum Dach auch damals stets versperrt gewesen sei – mit dem gleichen robusten Eisengitter, das auch heute noch zu sehen ist. Bei der Inspektion der Räumlichkeiten kommt es zum zufälligen Zusammentreffen mit Sergej Mikolaiovich, der für die Klitschko-Partei Udar im Parlament sitzt. Er stellt sich als Maidan-Unterstützer der ersten Stunde vor und verbreitet eifrig die These vom Einsatz russischer Agenten. Seit November sei er hier im Hotel untergebracht, zuletzt ganz oben in der 14. Etage, berichtet er. Dennoch: Belegen kann er seine Vermutung nicht. Auch gesehen habe er nichts außer daß sich das Hotel stets in der Hand der Opposition befunden habe. „Deshalb“, so Elena Korneva, „haben die Maidan-Kräfte auch sofort einen Raum nach dem anderen untersucht, zusammen mit unserem Direktor. Da wurde nirgendwo ein Scharfschütze gefunden.“

Doch gibt es da ein unangenehmes Detail, über welches die Hotelangestellten nur hinter vorgehaltener Hand sprechen: Eingerahmt vom Chaos des Notlazaretts, wo Ärzte und Freiwillige auf den Gängen um das Leben der aus nächster Umgebung Eingelieferten rangen, drang am 20. Februar eine kleine Gruppe Bewaffneter ins Gebäude, mindestens sieben teils maskierte Kämpfer der „Selbstverteidigung“, die mit einer Kalaschnikow, Jagdgewehren und Pistolen schreiend den Fahrstuhl in Beschlag nahmen und aus mindestens einem der oberen Räume auf die Sicherheitskräfte feuerten. Zwei Videos beweisen das. Die Reaktion der staatlichen Einheiten, das Hotel Ukraina daraufhin scheinbar wahllos unter Feuer zu nehmen, verweist auf mangelnde Professionalität.

Eher stümperhaftes Vorgehen der Staatsmacht

Die Erkenntnis reiht sich ein in eine lange Kette schier unglaublicher Vorgänge: Polizisten, die Steine und Molotow-brandsätze auf Demonstranten werfen. Sicherheitskräfte, die vor einer aufgebrachten Menge davonlaufen. Dutzende Regierungseinheiten, die von Maidanlern verhaftet und entwaffnet werden. Dazu mehrere nie zu Ende gebrachte Räumungsversuche.

In das Bild paßt die zum Teil verrottete Munition, welche die Regierungsgegner von flüchtenden Einheiten erbeutet haben wollen. Auch die Wut exilierter „Berkut“-Männer, mit denen knappe Gespräche auf der Krim möglich waren. Gegenüber ihrem früheren Dienstherrn Janukowitsch empfanden sie nur noch Verachtung – und dies nicht nur aufgrund seiner „feigen Flucht“, sondern auch wegen „fehlendem Biß gegenüber den Faschisten“. Immerhin wurde bis zuletzt kein Ausnahmezustand verhängt; das Militär blieb passiv.

Militärexperte Bothe glaubt nicht, daß die russische Regierung ihre Spezialisten in ein solches „Durcheinander, Gestümpere und Geballere von allen Seiten“ geschickt hätte. „Am Ende“, so Bothe, „hätte Putin nur den Schwarzen Peter gehabt.“ Er verweist darüber hinaus auf den Umstand, daß Scharfschützen zur Räumung eines besetzten Platzes „nicht zielführend“ seien. „Ich rücke mit geballter Kraft von einer Seite langsam vor und sorge dafür, daß die Menschenmassen über freie Straßen auf der Gegenseite abfließen.“ Einschub aus eigenem Erleben: Genauso war es bei der Räumung des Kairoer Tahrir-Platzes im November 2013 zu beobachten, wo die Staatsmacht ihre Gegner innerhalb von 30 Minuten vertrieb. Bothe: „Wenn in solchen Situationen überhaupt ein Scharfschütze zum Einsatz kommt, dann um hochwertige Ziele zu elimieren. Dazu zählen der Hetzer auf der Bühne oder auch der, der gerade Molotows abfüllt. Angst und Schrecken sorgen dann dafür, daß der Rest die Beine in die Hand nimmt.“ Das Massakrieren von Unbewaffneten hinter Metallschilden mitten auf einer Straße mache dagegen strategisch keinen Sinn.

 

Fassungslos blickt die Welt auf die Eskalation der Gewalt im Osten Europas. Die Crux dabei: Über die Hintergründe der Todesschüsse auf dem Kiewer Maidan, die zum Sturz des Präsidenten Janukowitsch führten, zerbricht sich kaum jemand den Kopf. Dies, obwohl die ungeklärte Schuldfrage zum auslösenden Moment des offenen Zerwürfnisses im zweitgrößten Land Europas wurde.

Parallel dazu bildete sich eine „Enthüllungsphalanx“, die Unglaubliches zu berichten wußte: „Die blutige Zuspitzung in Kiew, die schließlich zum Sturz von Janukowitsch führte, geht nicht auf die Brutalität des Regimes zurück, sondern auf Agents provocateurs der Opposition“, berichtete Jürgen Elsässer, Compact-Chefredakteur, Anfang März. „Schießbefehl womöglich aus den Reihen der Opposition und nicht von der Regierung“, vermeldete der Sender Stimme Rußlands am 11. März.

Im Auftrag der JUNGEN FREIHEIT brachte Billy Six zehn Wochen in der ukrainischen Hauptstadt zu, um möglichst viel von der Wahrheit über die „himmlischen Hundert“, die in den Straßenkämpfen vom 18. bis 21. Februar zu Tode kamen, ans Tageslicht zu befördern. Seinen ersten exklusiven Bericht lesen Sie hier. Teil 2 („Nichts war zielgerichtet“) erscheint in der kommenden JF-Ausgabe.

Fotos: Hotel Ukraina vis-à-vis zum Maidan: Schossen Scharfschützen von hier auf Demonstranten?; „Selbstverteidiger“ Mikola Romanjuk bewachte im Februar das Hotel: „Wir haben alle kontrolliert, da kam keiner rein“

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