© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/14 / 15. August 2014

Die Wucht des Umbruchs
Kirchen: Die derzeitige Austrittswelle ist vor allem sichtbarer Ausdruck eines Verkündigungsproblems
Gernot Facius

Die Kirchen bluten aus“, titelte die Welt. Ein zugespitztes, reißerisches Bild. Immerhin bekennen sich, zumindest auf dem Papier, noch immer 24,2 Millionen Menschen in Deutschland zum Katholizismus, und die notorisch unter inneren Spannungen leidenden evangelischen Landeskirchen melden 23,35 Millionen Mitglieder. Noch sehr lange werden die Kirchen die größten Institutionen des Landes sein – trotz fortschreitender Säkularisierung.

Dennoch: Rosig sind die Aussichten wahrlich nicht. Nach einem vorübergehend rückläufigen Trend haben 2013 rund 179.000 Personen die katholische Kirche verlassen – ein neuer Spitzenwert nach den 181.293 Austritten auf dem Höhepunkt der Mißbrauchsdebatte im Jahr 2010. Nicht viel besser sieht es auf protestantischer Seite aus, die von vergleichbaren Skandalen weitgehend verschont geblieben ist und im übrigen alles hat, was katholische „Reformer“ vermissen: verheiratete Pfarrer, Frauen am Altar, sogar Bischöfinnen.

Zur Erinnerung: 2012, aktuellere Angaben liegen nicht vor, haben 140.000 Personen der Kirche der Reformation den Rücken gekehrt. Tendenz steigend. Um mehr als 50 Prozent habe in den vergangenen Monaten die Zahl der Austritte aus den Gliedkirchen der EKD zugenommen, ergab eine epd-Umfrage. Die von 2015 an geltende direkte Erhebung der Kirchensteuer auf Kapitalerträge zeigt offenbar schon in diesem Sommer Wirkung. Das bestätigen auch katholische Experten. Wie in Schieflage geratene Unternehmen bringen die kirchlichen Behörden Gewinnwarnungen heraus. Denn die prognostizierte Entwicklung, von einem „Sparbuch-Schock“ spricht die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, hat Folgen für die Finanzen der Diözesen und Landeskirchen.

Und wie reagieren die Kirchenoberen auf die hohen Austrittszahlen? Vor allem im zweiten Halbjahr 2013 sei es „offensichtlich zu einem Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust“ gekommen, erklärte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx – eine Anspielung auf den Skandal um den früheren Limburger Bischof Tebartz-van Elst. „Der hohen Austrittszahl müssen wir begegnen, indem wir immer wieder versuchen, auf allen Ebenen Vertrauen zu schaffen durch gute und überzeugende Arbeit. Das gilt natürlich besonders auch für uns als Bischöfe und Priester.“

Traditionsabbruch geht weiter

Wer wollte Marx widersprechen, wenn er die schockierenden aktuellen Eckdaten des kirchlichen Lebens als „Weckruf“ bezeichnet? Aber allein auf mehr Transparenz bei den Finanzen und eine verbesserte Gesprächskultur (Stichwort: „Dialogprozeß“) zu setzen und zu glauben, dann werde schon alles wieder gut, wäre zu simpel gedacht. Beide Großkirchen haben ein Vermittlungs-, genauer: Verkündigungsproblem. In einem katholischen Internetforum brachte ein Kommentator dieses Problem auf den Punkt: Solange die Verkündigung nicht ihren Weg zu den Menschen finde, solange Bischöfe bei Kirchenaustrittszahlen von Vertrauenskrise redeten und Einnahmekrise meinten, so lange werde sich der Exodus der Gläubigen mit jetzt zunehmender Geschwindigkeit fortsetzen. Und noch deutlicher: „Erspart mir den Quatsch von der Vertrauenskrise, wenn es sich doch in Wirklichkeit um nichts anderes als eine der schlimmsten Glaubenskrisen in Europa seit Jahrhunderten handelt.“

Bischof Tebartz-van Elst allein für den Mitgliederschwund verantwortlich zu machen, greife zu kurz, findet auch der Freiburger Religionssoziologe Michael N. Ebertz. „Wir müssen uns langfristig auf Austrittszahlen von mehr als 100.000 pro Jahr einstellen.“

Der „Franziskus-Effekt“, das hohe Ansehen, das der Papst aus Argentinien genießt, kann den Negativ-Trend offenbar nicht stoppen. Der Traditionsabbruch, vor allem in den Städten, geht weiter. Er wäre auch weitergegangen, merkte die Süddeutsche Zeitung an, wenn der als „Protz-Bischof“ geschmähte Tebartz-van Elst in eine Sozialwohnung mit Apfelsinenkisten gezogen wäre. Wer nur auf die Mitgliederzahlen etwa der katholischen Kirche oder den „Reformstau“ starrt, wird die Wucht des Umbruchs nicht erkennen.

Gewiß, es sind auch viele gegangen, die sich bislang den Kirchen zugehörig fühlten, sie zogen sich aus Enttäuschung oder – das gilt in erster Linie für das protestantische Spektrum – aus purer Verzweiflung angesichts einer Entspiritualisierung zurück, und man wird ihnen nicht pauschal Abkehr vom Christentum unterstellen können.

Die meisten, da liegt man sicher nicht falsch, haben allerdings Skandale und Affären zum Anlaß genommen, sich von ihrer Kirche (endlich) zu trennen, weil sie schon lange nichts mehr mit ihr am Hut hatten. 1990 gingen an jedem Sonntag im Durchschnitt 6,2 Millionen von damals 28,2 Millionen Katholiken in die Messe. 2013 waren es nur noch 2,6 Millionen, bei einer Katholikenzahl von 24,1 Millionen. Nur noch 10,8 Prozent haben zumindest einmal pro Woche Kontakt mit der Kirche.

Familiäre Milieus sind erodiert

Das katholische Gebot der Sonntagsheiligung ist praktisch ausgehebelt. Die familiären Milieus, in denen die Weitergabe des Glaubens wie die Beachtung der Kirchengesetze selbstverständlich waren, sind erodiert. „Kindergottesdienste“, schrieb die Welt mit Blick auf die evangelische Kirche, „bei denen bestenfalls Bilder von der Arche Noah ausgemalt werden, sind niedlich, der religiösen Erziehung dienen sie nur bedingt.“ Den Menschen muß erst wieder deutlich gemacht werden, „daß die Gemeinschaft des Glaubens für uns Christen eine wichtige Hilfe und Bereicherung ist“ (Kardinal Marx).

Daß sich die Bischöfe beider Konfessionen hier an die eigene Brust klopfen müssen, ist längst nicht jedem Hierarchen hinreichend bewußt. Im Religionsunterricht erfahren die Schüler oft mehr über andere Religionen als über die Grundmerkmale der eigenen Konfession. „Reli“ ist zu einer Art Sozial- oder Gemeinschaftskunde geworden. Das hat schon Benedikt XVI. 2010 in seinem Buch „Licht der Welt“ gerügt. „Hier müssen die Bischöfe in der Tat ernsthaft darüber nachdenken, wie der Katechese ein neues Herz, ein neues Gesicht gegeben werden kann.“ Eingelöst wurde dieser Auftrag noch nicht.

Foto: Gläubige im Dom in Essen (2012): Das katholische Gebot der Sonntagsheiligung ist praktisch ausgehebelt

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