© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/14 / 22. August 2014

Von wegen zielgerichtet
Ukraine: Was ist dran am Einsatz von Scharfschützen, der das Land destabilisierte? / Teil 2 der akribischen Spurensuche von JF-Reporter Billy Six
Billy Six

Es war auch eine Geheimaktion“, beharrt Inna Bogoslowska, seit fast zwei Jahrzehnten in der ukrainischen Politik aktiv. Die Parlamentsabgeordnete war die erste aus den Reihen der „Partei der Regionen“, welche Janukowitsch zum Rücktritt aufgefordert hatte. Anfang Dezember 2013 trat sie aus der Regierungsfraktion aus.

Heute betont sie, die Gewalttätigkeit des damaligen Präsidenten habe sie zu diesem Schritt bewogen. Beim Hintergrundgespräch empfängt die studierte Juristin ihren Gast aus Deutschland mit Wangenkuß. Die Maidan-Proteste markiere für sie „das Ende der Sowjetperiode“ in der Ukraine, stellt Bogoslowska klar. In der Berichterstattung zum Zweifel an der Urheberschaft der Maidan-Toten zitierten sie alle deutschen Medien mit der Stellungnahme, sie habe in einem Video Scharfschützen in „Berkut“-Uniformen gesehen, die bewußt in die Reihen beider Parteien geschossen hätten – „aber nicht im Auftrag der ukrainischen Sicherheitskräfte“.

Die Mär von den mordlüsternen Söldnern

Beim Gespräch in ihrem Büro konkretisiert Bogoslowska ihre öffentlichen Aussagen vom 21. Februar, welche den Beginn der ganzen Verschwörungsdebatte markierten: „Das Video wurde mir auf einem Mobiltelefon vor dem Parlament gezeigt“, so die 53jährige. Warum sie, die gewiefte Anwältin, den Film nicht sofort sicherte, bleibt schleierhaft. Das angebliche Beweismaterial ist verschollen.

Auf Nachfrage markiert Bogoslowska die Position der vermeintlichen zwei Schützen: Sie hätten auf den Dachkanten des „COOP Spilka“ gesessen, dem siebengeschossigen Gebäude an der Kreuzung von Institutskaja-Straße und Khreschatik-Allee, so die Politikerin. Dank guter Beziehungen zum örtlichen privaten Sicherheitsdienst gelingt es, das Haus näher zu untersuchen. Ergebnis: Es ist gekrönt mit einem Spitzdach, direkte Zugänge gibt es nicht. Das Anwesen ist nicht mit anderen Bauwerken verbunden. Denkbar ungünstiges Gelände für Geheimsöldner. Konfrontiert mit den Fakten verweigert Bogoslowska jede weitere Aussage.

Gespräche mit zahlreichen Augenzeugen legen den Schluß nahe, daß sämtliche Gebäude um den Maidan herum mit „mordlüsternen Söldnern“ besetzt gewesen sein müßten. In der Psychologie wird von Streß-Syndromen und Gedächtnisverfälschungen gesprochen. Anders ist nicht zu erklären, wieso es im hinteren Teil des Protestlagers sowie der langgezogenen Khreschatik-Allee keine Niedergeschossenen gab, dafür jedoch abseits in den Nebenstraßen Institutskaja und Gruschewskoho, vor allem zwischen Parlament und Präsidentenpalast.

Vor Ort präsente Ärzte und Helfer, die nun in Ruhe zu sprechen waren, bestätigen übereinstimmend: „Wir haben nur Opfer von anderen Stellen entgegengenommen.“ Aus den Gesprächen mit insgesamt neun involvierten Ärzten ergibt sich: Das einzige, was in den Wunden gefunden werden konnte, waren neben den besagten Metallkugeln die Projektile von Pistolen, Schrot und Splitter diverser Sprengsätze. Sie alle weisen, übereinstimmend mit dem Waffenexperten Carsten Bothe, darauf hin, daß es einem normalen Arzt nicht möglich sei, in der Notaufnahme festzustellen, ob ein Scharfschütze geschossen hat oder welcher Waffentyp verwendet wurde, schon gar nicht, ob es das gleiche Gewehr war.

Ähnliche Wundmerkmale auf beiden Seiten lassen sich auf drei profane Aspekte zurückführen: die Metallkugel-Sprengsätze, deren Schrapnelle in alle Richtungen flogen; der Umstand, daß sowohl Polizei als auch Protestierer mit handelsüblichen Jagdwaffen und Pistolen feuerten; und zuletzt, in der Eskalationsphase, die Eroberung von Kalaschnikows durch die Protestierer, welche sie anschließend gegen die Staatsmacht zum Einsatz brachten.

Der einzige Ort, wo tatsächlich Polizisten und Protestierer behandelt worden sind, ist das Kiewer Militärkrankenhaus – die Armee hielt sich aus der Auseinandersetzung bis zuletzt heraus. Anatolij Kasmirtschuk ist Chef der großräumigen Einrichtung, die sich nur drei Metro-Stationen vom Maidan entfernt befindet.

Eine wilde Knallerei – nicht mehr und nicht weniger

Kurz angebunden, bringt er im Gespräch die Dinge schnell auf den Punkt: „30 Pozent aller bei uns registrierten Verletzungen stammten von Pistolen, 30 Prozent von Jagdwaffen, 15 von Verbrennungen und 25 Prozent von Rauchvergiftungen und sonstigen Schädigungen.“ Nur bei zwei Polizisten gäbe es den Verdacht von Angriffen durch Scharfschützen: Einer sei im Bauch getroffen worden – und verstorben. Der andere, mit Einschuß im Rücken, konnte gerettet werden. Bei beiden sei der glatte Durchschuß mit großkalibrigem Ein- und Austrittsloch festzustellen gewesen, so Kasmirtschuk. Das kann auf vollummantelte (Militär-)Munition für Profis hinweisen – von einer der eroberten Kalaschnikows zum Beispiel.

Doch Waffenexperte Bothe weist darauf hin, daß selbst Teilmantelgeschosse aus Jagdgewehren derartige Schäden hinterlassen können – wenn aufgrund weiter Entfernung „die Energie fehlt, um das Teilmantelgeschoß aufpilzen zu lassen und so einen größeren Ausschuß zu produzieren“.

Entscheidend sei am Ende nicht die Frage der Munition, sondern die Person am Abzug. Das Ziel eines Scharfschützen ist das Töten – dafür ziele er, so Bothe, auf Kopf oder Brust. „Und diese Schüsse sitzen bei Profis, sonst drücken sie nicht ab.“ Verletzungen in Bauch und Rücken verweisen zurück auf die Straßenkampf-These.

Ebenso die Angaben Kasmirtschuks zum Schweregrad der Verletzungen: 20 Prozent stark, 50 Prozent mittel, 30 Prozent leicht. Eine wilde Knallerei – und die meisten Schüsse aus weniger als 50 Metern Entfernung, so der Chefmediziner. Und das im Zuge wechselnder Linien. Eine Mindestzahl von 700 Verletzten hat die Ärzteorganisation „Initiative E+“ registriert. Carsten Bothe verweist auf eine überraschende US-Studie: Im Nahkampf (unter zehn Metern) habe es bei Polizeieinsätzen die größte Fehlerquote gegeben: 80 Prozent. Die mit Patronenhülsen übersäte Institutskaja-Straße legte Zeugnis ab: Einige Kugeln trafen schließlich tödlich. Am „Blutigen Donnerstag“ hatte die Staatsmacht endgültig jegliche Zurückhaltung aufgegeben: Auch wenn Unbewaffnete getroffen wurden, die Gegenseite konnte sich nach dem Verlust zahlreicher Kalaschnikows nicht mehr sicher sein, wer genau sich hinter den Schilden verbirgt.

Die Aktivisten waren bis auf wenige Meter an die Polizeibarrikade hinter dem Hotel Ukraina herangerückt, wie Videomaterial und Zeugenaussagen belegen. Eine Eroberung des Regierungsviertels durch wütende Demonstranten mußte aus Sicht der Staatsmacht unbedingt verhindert werden, um Umsturzszenarien wie 2003 in Georgien oder 2005 Kirgistan zu verhindern.

Von den 104 Todesopfern, die namentlich dokumentiert sind, werden nur rund 30 dem Gemetzel in der Institutskaja-Straße zugerechnet. Bereits am 18. Februar starben 21 der Demonstranten sofort an den Folgen eines blutigen Nahkampfs – außerhalb des Maidan. Der spätere Ministerpräsident Jazenjuk hatte als Oppositionsführer von der Bühne zu einer „friedlichen Offensive“ zum Parlamentsgebäude aufgerufen. Zahlreiche frustrierte Maidanler hatten sich damals nach einer härteren Gangart gesehnt. Der Protestmarsch mit Tausenden Teilnehmern geriet außer Kontrolle.

Im Marinsky-Park, gegenüber dem Abgeordnetenhaus, trafen Maidanler, Polizei und die „Tityuschki“ des angeblich bezahlten Anti-Maidan direkt aufeinander. Wer den ersten Stein warf, läßt sich nicht mehr nachvollziehen. Doch Wut, Depression und Haß entluden sich in einem blutigen Kampf mit Knüppeln, Messern, Steinen, Flaschen, Brandsätzen und Kleinwaffen. Von den 18 getöteten Sicherheitskräften starben zehn an jenem Dienstag – noch bevor die „mysteriösen Schützen“ ins Spiel kamen.

„Aus diesem Grund haben unsere Sondereinheiten an jenen Tagen gelbe Armbinden getragen“, so Marina Ostapenko, Pressesprecherin des Inlandsgeheimdienstes SBU. „Um sie von allen anderen Parteien zu unterscheiden.“ Nach mehreren Anfragen hat sie sich zu einem Gespräch bereit gefunden. Das Hauptquartier: nur wenige hundert Meter vom Maidan entfernt, in der Volodymyrska-Straße. Ein Aufseher verfolgt die Unterhaltung. Anlaß: ein Bericht im US-Magazin The Daily Beast, der Aufsehen erregte. Sein Titel: „Fotos enthüllen von Russen geschulte Mörder in Kiew.“ Zu sehen sind nicht-maskierte Männer mit Schutzwesten und vollautomatischen Waffen im Hinterhof des SBU.

Überraschend bestätigt Ostapenko die Echtheit der Bilder sowie den Einsatz am 20. Februar. „Das ist unsere Anti-Terror-Einheit Alpha, die aus 200 Mitgliedern besteht.“ Zwölf davon seien Scharfschützen, berichtet die Offizielle. Die Behauptung, im Rahmen einer Defensivstrategie seien damals jedoch „keine Schüsse abgegeben“ worden, mag unglaubwürdig klingen, widerlegt werden kann sie nicht. Die Fotos zeigen die Einsatzkräfte bei der Vorbereitung – nicht auf frischer Tat. „Wir waren auf Abstand“, so Ostapenko, „in den Straßen Khreschatik, Kostjulna und am Präsidentenpalast – nicht in der Institutskaja.“ Dort seien nur „Berkut“ und Miliz unterwegs gewesen.

Immerhin einen spannenden Aspekt gibt die Geheimdienst-Vertreterin dann doch noch zu Protokoll: Die Kontrolle über die „Alpha“-Truppe der Krim, die von Präsident Janukowitsch angefordert worden war, sei im Chaos verlorengegangen. Ob nach oder sogar schon vor der Absetzung der alten Regierung – darüber schweigt sich Ostapenko aus. Doch nicht nur die Spezialtruppe von der Krim, auch der Donezker „Alpha“-Chef Alexander Chodakowski hätten schnell das Weite gesucht – letzterer unterstütze heute die Separatisten im Osten. Oleksandr Jakymenko, der nach Rußland geflohene SBU-Chef, habe stets „russische Interessen repräsentiert“, sagt die SBU-Sprecherin über ihren ehemaligen Vorgesetzten. Mehr als eine enge geheimdienstliche Zusammenarbeit in der Vergangenheit gibt es nicht zu bieten – als Beweis für „von Russen geschulte Mörder“. Aber auch die Behauptung, „westliche Söldner“ wären im Einsatz gewesen, konnte die geschaßte Seite nie belegen.

Fackelte die Opposition ihr eigenes Hauptquartier ab? Mehr zum Thema „Tod auf dem Maidan“ ab Donnerstag im Internet unter jungefreiheit.de

Fotos: Einschuß im Pressezentrum (COOP-Spilka) mit Blick auf das Gründerdenkmal: Eher ein Querschläger vom Maidan denn ein gezielter Anschlag; Marina Ostapenko, Sprecherin des Inlandsgeheimdiens-tes: Die Kiewer Sondereinheit war nicht involviert; Anatolij Kasmirtschuk, Chef des Militärkrankenhauses: Keine zivilen Opfer durch Scharfschützen

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