© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/14 / 22. August 2014

Das Echte hat keine Sprache
Kino I: In dem Psychothriller „Sag nicht, wer du bist“ muß ein Schwuler einen Hetero samt Scheinfreundin mimen
Sebastian Hennig

Der Frankokanadier Xavier Dolan trat 2009 mit seinem Debütfilm „Ich habe meine Mutter getötet“ als zwanzigjähriges Wunderkind hervor. Das Drehbuch hatte er bereits als Teenager verfaßt. Mit seinem vierten Film, dessen Grundmotiv auf einem Theaterstück von Michel Marc Bouchard basiert, hat er nun die Reifeprüfung im filmischen Handwerk summa cum laude bestanden. Zum Filmfestival in Venedig gewann „Tom à la ferme“ den Preis der Filmkritik. Dolan zeichnet nicht nur für Regie, Drehbuch, Produktion, Schnitt und Kostüme verantwortlich. Er spielt auch die Hauptrolle.

Als blondierter Jüngling rauscht er in einem Auto durch die Landschaft. Das Bild von einem Stadtmenschen schiebt sich in den Rahmen ländlicher Gebundenheit. Mit dem Verlassen der Landekapsel Automobil beginnt das Abenteuer. Tom langt aus Montreal auf einem großen Hof an, um am Begräbnis seines verunglückten Lebenspartners teilzunehmen. Gemeinsam haben sie in der Werbebranche gearbeitet. Toms Freund war ein Sohn der verwitweten Agathe (Lise Roy) und der Bruder von Francis (Pierre-Yves Cardinal), der den Hof bewirtschaftet. Dieser ältere Bruder hat Scheinwelten um die Homosexualität des Verstorbenen aufgebaut und verteidigt sie leidenschaftlich mit Mitteln, vor denen jede professionelle Reklame verblaßt. Francis erhält seine Fiktionen mit strikter Gewaltanwendung. Die homosexuelle Neigung des Bruders und die intime Beziehung des Trauergastes zu ihm soll vor allem der Mutter verborgen bleiben. Dafür wird dem Verstorbenen eine Freundin angedichtet.

Schon in der ersten Nacht wird der Ankömmling im Bett überfallen und bekommt die Rolle unmißverständlich souffliert, die er zu spielen hat. Der Besuch soll glatt über die Bühne gehen und bald beendet werden. Aber es kommt anders, als Tom seine wohlvorbereitete Rede in der Kirche nicht über die Lippen kommen will. Eine andere Wirklichkeit hat bereits Macht über ihn gewonnen, die er später gegenüber der herbeigelockten Freundin aus der Stadt als „das Echte“ bezeichnen wird.

Die übersichtlichen Zeiten sind längst vorbei

Der Höhepunkt des Unechten wird erst einmal markiert von dem Chanson, das auf seinen Wunsch in der Kirche inmitten der getragenen Zeremonie der Beisetzung vom Rekorder plärrt. Das Deplazierte wird genußvoll ausgespielt. Das Paar hatte das süßliche Liedchen gemeinsam als Karaoke gesungen. Die Rückerinnerung sticht grell ab von den gegenwärtigen Zuständen.

Der brutale Francis schlägt Tom nicht nur ins Gesicht, sondern auch in den Bann seiner Kraft und vermeintlichen Geradlinigkeit. Tatsächlich bleibt alles undurchsichtig. Francis wird von jedermann im Dorf gemieden. Außer der Rücksichtnahme auf die Gefühle der Mutter erkennt er seinerseits keine weiteren Verbindlichkeiten an. Tom, der mental versagt hat, muß sich nun bis auf weiteres in der Landwirtschaft bewähren. Er steht mit dem Wasserschlauch im Stall und hilft dabei, ein Kalb auf die Welt zu bringen. So wie sein starker Arm Tom würgt, nimmt der kräftige Francis mit seinen rauhen Eigenarten auch von dessen Seele Besitz. Mehrmals läßt der sich den Fluchtweg verbauen.

Als er zuletzt das Dorf verläßt, weiß er, daß er sich selbst nie entrinnen wird. Sara (Évelyne Brochu) kommt aus der Stadt, um die Scheinfreundin des Verstorbenen zu mimen. Nach kurzem rein formalem Widerstand ergibt auch sie sich lustvoll dem Gewaltmenschen Francis.

Der Verleih kündigt den Film als „Drama der Unterwerfunglust“ an. Es wird kein Gegensatz von Stadt und Land konstruiert. Einsamkeit gibt es hier wie dort. Es reibt sich kein rebellischer Geist an konventionellen Umständen. Die übersichtlichen Zeiten sind längst vorbei und haben vielleicht nur noch im Kino ein Nachleben. Xavier Dolan hat solchen Klischees in seinem Film jeden Nährboden entzogen. Alle Menschen sind inzwischen Außenseiter, zumindest alle Menschen mit einem Schicksal, das heißt die Nicht-Autonomen.

„Tom auf dem Bauernhof“ lautet der Originaltitel des Films. Der deutsche Verleih dagegen nennt ihn „Sag nicht, wer du bist!“ Aber Tom weiß das zuletzt selbst nicht mehr. Und Francis gibt es von sich nie preis. Agathe will Zeichen sehen und keine Wahrheiten wissen. Sara läßt sich überwältigen.

Die zunehmende Ungewißheit ist eigentlich das Thema des Films. Als Tom einem Kneipenwirt schließlich die Ursache des Außenseitertums von Francis entlocken kann, schält sich abermals ein Geheimnis aus der alten Ungewißheit. Das Wirkliche oder – in Toms Worten – „das Echte“ hat keine Sprache. Es bleibt allein in Bildern aufgehoben. Alles Vergängliche wird in diesem Film zum Gleichnis. Darüber walten unbeweglich die Mütter. So auch in seinem neuen Film „Mommy“, der gerade im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes Triumphe beim Publikum feierte und den Preis der Jury erhielt.

www.sagnichtwerdubist-film.de

Foto: Tom (Xavier Dolan) und Francis (Pierre-Yves Cardinal): Von der Seele Besitz ergreifen

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