© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/14 / 22. August 2014

Europas Umgang mit Rußland
Der Westen will nichts lernen
Eberhard Straub

Der Versuch der USA, der Nato und der EU, Rußland an den Rand Europas zurückzudrängen und endgültig um den Rang einer Groß- oder Weltmacht zu bringen, ist nicht überraschend und ungewöhnlich. Er steht in einer langen Tradition. Der Schutz der Ukraine als unabhängiger Staat ist nur ein willkommener Anlaß, an alte Überlegungen anzuknüpfen, die nie vergessen worden waren.

Während des Krimkrieges der europäischen Westmächte England und Frankreich 1853 bis 1856 war es das erklärte Ziel britischer Politiker, vor allem Lord Palmerstons, ab 1855 Premierminister, Rußland, das Reich der Dunkelheit und der Despotie, im Namen des Lichtes und der Zivilisation auf ein Großfürstentum Moskau zu beschränken und das Russische Reich im Namen der Freiheit in einzelne Staaten aufzulösen. Das war eine revolutionäre Idee. Denn Rußland gehörte zu den fünf Mächten, die das Europäische Konzert bildeten und miteinander die Friedensordnung, wie sie 1814 auf dem Wiener Kongreß geschaffen worden war, vor Erschütterungen und Umwälzungen bewahren sollten.

Der Krimkrieg war der erste große Angriff gegen die Wiener Ordnung und damit gegen das jus publicum europeum, das Völkerrecht, wie es die europäischen Staaten im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hatten. Aus diesem Umsturz in Europa wurde nichts. Denn die Preußen verweigerten sich dem Werben „des Westens“, der sich erstmals und vorerst nur vorübergehend als ideologisch-aggressive Wertegemeinschaft bildete. Die Preußen blieben neutral, sicherten damit die Neutralität des Deutschen Bundes und hinderten die Österreicher daran, auf der Seite des Westens Europa und Deutschland erfolgreich umgestalten zu können.

Preußen bewahrte damals Europa vor einem großen, allgemeinen Krieg, was gerade Briten ihnen sehr verübelten. In der Times hieß es 1854 unwirsch: „Preußen wird immer verhandeln, aber es findet nie einen Entschluß. Es findet sich gerne auf Kongressen ein, aber es fehlt auf den Schlachtfeldern. Es ist immer bereit, eine Menge von Idealen und Gefühlsmomenten vorzubringen, aber seine Politik scheut zurück vor allem, was nach Realität und Aktualität schmeckt.“

Weil Preußen und die deutschen Staaten tatsächlich neutral blieben und deshalb zwischen Rußland und „dem Westen“ vermitteln konnten, erfüllten sie sehr umsichtig die Aufgabe, die Fürst Metternich, der österreichische Staatskanzler bis 1848, von ihnen erwartete, nie zur Avantgarde des Ostens oder des Westens zu werden, sondern mit dem Gewicht eigener Unabhängigkeit zum Vorteil der europäischen Ordnung den Osten und den Westen von eigensinnigen Übertreibungen in ihrer Sicherheits- oder Interessenpolitik erfolgreich abzuhalten.

Das gute russisch-deutsche Einvernehmen seit dem späten 16. Jahrhundert war etwas Einzigartiges. Über Deutschland wurde Rußland mit dem übrigen Europa eng verbunden, wie auch über Rußland Deutsche aus ihrer Provinzialität herausfanden.

Im Großen Krieg, im Ersten Weltkrieg, kämpfte Rußland an der Seite Englands und Frankreichs. Selbstverständlich galt es nun als Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft, nicht mehr als Reich der Finsternis, in dem die Menschenrechte unbekannt waren. Es brachte viele Opfer im Einsatz für den Westen, der ohne russische Hilfe sich nicht als Sieger gegen das „Reich der Zivilisations- und Freiheitsfeinde“, gegen das Deutsche Reich, hätte behaupten können. Die Deutschen besiegten allerdings mit einigen Mühen die Russen, mit denen sie bis 1914 seit Jahrhunderten dauernd gut zusammengelebt und zusammengearbeitet hatten. Das gute russisch-deutsche Einvernehmen seit dem späten 16. Jahrhundert war etwas Einzigartiges in Europa. Über Deutschland wurde Rußland mit dem übrigen Europa eng verbunden, wie auch wieder über die Russen Deutsche aus ihrer Provinzialität herausfanden und im Russischen Reich in weitesten Zusammenhängen tätig werden konnten.

Im Ersten Weltkrieg zerbrach die Einheit Europas, deren Voraussetzung die deutsch-russische Verständigung war. Für die Deutschen war nun Rußland der Feind, der ein für allemal erledigt und auf eine asiatische Grenzprovinz reduziert werden müsse. Im Frieden von Brest-Litowsk vom 3. März 1918 wurde das britische Programm des Krimkrieges, das Russische Reich zu zerschlagen, mitten im Bürgerkrieg der noch nicht gefestigten Sowjetunion, verwirklicht. Die neuen Staaten vom Baltikum und Polen über die Ukraine bis Georgien sollten als Mitglieder eines deutschen Systems kollektiver Sicherheit in der Übereinstimmung mit deutschen Interessen ihren Vorteil erkennen.

Im Frieden von Versailles verlor Brest-Litowsk seine Gültigkeit. Es gelang der Sowjetunion, viele Trümmer des Russischen Reiches wieder zu vereinen, eine bemerkenswerte Leistung unter widrigsten Umständen. Denn die ehemaligen Verbündeten Rußlands – England und Frankreich sowie die USA – fürchteten im sowjetischen Rußland ihren Feind schlechthin wie ehedem im Krimkrieg, auf die Dauer noch gefährlicher und schrecklicher als die Deutschen. Mit den Deutschen wurden die Westmächte allmählich fertig. Sie brauchten dazu die Hilfe Stalins, in dem sie einen russischen Abraham Lincoln feierten, der allen Entrechteten zu ihrer Freiheit und Menschenwürde verhelfen würde. Diese freundlichen Einschätzungen verloren sich bald nach 1945. Rußland oder die Sowjetunion wurde wieder wie 1853 zum Reich des Bösen, das arglistig als Osten den Westen darum bringen möchte, die ganze Welt und die Menschheit zu erlösen aus verschuldeter oder unverschuldeter Unfreiheit.

Auch der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, vom Westen aus meist „Ostblock“ genannt, änderte an diesem Sendungsbewußtsein nichts. Im Gegenteil – jetzt am „Ende der Geschichte“, wie verkündet wurde, gab es nur noch ein Reich, die USA, einen Kaiser, den amerikanischen Präsidenten, und einen Gott, Merkur, der als Amerikaner über die Handelsfreiheit wacht. Die alten Europäer hatten die Welt immer als Pluriversum vieler Kräfte verstanden, die in ein gewisses Gleichgewicht gebracht werden müßten. Entgegen allen Traditionen sollen und wollen sie jetzt auf die einzige Supermacht vertrauen, die die gesamte Welt und schon den Weltraum als ihren Interventionsraum betrachtet.

Rußland ist die einzige Macht in Europa, die sich weigert, in der Amerikanisierung der Welt ein gottgewolltes oder von der Geschichte vorbereitetes Programm zu sehen, wie es der Brite William T. Stead 1902 verkündete. Amerikanisierung bedeutet heute das gleiche wie Verwestlichung. Wer nicht verwestlicht werden möchte, verweigert sich der Menschheit. Sie macht sich nur mit der Stimme Amerikas verständlich. Rußland spricht nicht mit der Stimme Amerikas. Es will als europäische Macht unter Europäern verstanden werden. Damit macht es sich verdächtig. Denn die sogenannten Europäer haben jede Vorstellung von Europa verloren. Sie reden von sich vorzugsweise als dem Westen, vor allem, wenn sie sich an Rußland wenden. Das liegt im Osten, ganz fern von Europa, das im Westen auf- oder untergegangen ist.

Russen sind allerdings Europäer, ihnen ist der Osten und Westen nicht wichtig, wenn sie zu Europäern reden. Sie wollen als Europäer unter Europäern wahrgenommen werden. Die ideologisierten „Westmenschen“ irritiert es, wenn einer anders als sie sein möchte. Für diese offenen, multikulturellen Zeitgenossen von allgemeiner Mitmenschlichkeit ist es eine Herausforderung, wenn einer in Europa ihren Normen nicht entspricht. Ein Europäer ist nur ein Westeuropäer, zu dem mittlerweile auch Italiener oder Spanier und Portugiesen werden sollen. Aus dem Westen kommt das Heil und aus dem Osten – aber längst auch aus dem Süden – das Unheil.

Die Westmächte sind Schlafwandler, die in ihrer ideologischen Begrenzung den Überblick verloren haben und die Wirklichkeit gar nicht mehr erkennen. Europa als geistig-historischer Begriff verlor seit 1914 seine Existenz. Er ist nie wiedergewonnen worden.

In diesem Sinne wird Rußland dämonisiert. Die einzige Lösung, scheint’s, ist es, wie 1853, es endlich aus Europa zu entfernen und ihm die Möglichkeit zu nehmen, Europäer vom Pfad der westlichen Tugend abzubringen. Der Frieden von Brest-Litowsk mit der Zertrümmerung des Russischen Reiches in der Tradition des Krimkrieges ist mittlerweile Nato-Doktrin. Die Ukraine ist dabei vollkommen uninteressant. Es geht nur darum, wieder einmal Rußland auf ein Großfürstentum Moskau zu beschränken.

Die Westeuropäer behaupten unermüdlich, aus der europäischen „Urkatastrophe“, wie sie redensartlich den Ersten, Großen Krieg nennen, gelernt zu haben. Sie haben nichts gelernt. Europa ist nur noch westlich, und der Westen ist antirussisch. Europa ist und bleibt gespalten. Europa gibt es nicht ohne Rußland. Doch Europa, für das sich die EU hält, hat sich selber aufgegeben. De Gaulle sprach noch voller Hoffnung von einem Europa wie vor 1914 von Gibraltar bis zum Ural. Heute würde er als „Putinist“ sofort verächtlich gemacht, wie einst begeisterte Westler und Atlantiker ihn in Deutschland des Antiamerikanismus anklagten. De Gaulle war ein Europäer. Ein Europa ohne Rußland konnte er sich nicht vorstellen, ein Europa, das von Gibraltar bis zum Ural als historisches Europa reicht.

Der Westen und mit ihm das sogenannte Europa unterstützt in der Ukraine ein chaotisches Gebilde, das höchstens Sehnsucht nach Staatlichkeit weckt, jedenfalls kein Staat ist und aus dem auch der Westen gar keinen Staat machen will. Er mißbraucht dieses Kunstwerk sowjetischer Nationalitätenpolitik für seine Zwecke, Rußland endlich aus Europa zu vertreiben, was seit 1853 nicht gelungen ist.

Der Westen will kein „Schlafwandler“ sein wie 1914. Doch die Westmächte und Westeuropäer sind Schlafwandler, die in ihrer ideologischen Begrenzung den Überblick verloren haben und die Wirklichkeit gar nicht mehr erkennen. Eu­ropa als geistig-historischer Begriff verlor seit 1914 seine Existenz. Er ist nie wiedergewonnen worden. Ein Europa, das als Westen Rußland von Europa ausschließt, bestätigt, sich von Europa längst verabschiedet zu haben.

 

Dr. phil. habil. Eberhard Straub, geboren 1940 in Berlin, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker, Publizist und Buchautor war bis 1986 Feuilletonredakteur der FAZ und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Zu seinen Publikationen zählen „Drei letzte Kaiser“ oder „Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit“. Zuletzt veröffentlichte er eine Doppelbiographie über Wagner und Verdi (2013).

Foto: Blockhaus in der von König Friedrich Wilhelm III. 1826 für russische Sänger erbauten Russischen Kolonie in der ehemaligen Residenzstadt Potsdam: Zeugnis preußisch-russischer Verbundenheit, Zeugnis eines Ausgleichs zum Wohle Europas

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