© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/14 / 22. August 2014

Atemberaubende Kehrtwendungen
Vor 75 Jahren schockierte der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt das kriegsbereite Europa
Alexander Losert

Gläser klirren, Zigarettenrauch hängt schwer in der Luft, man prostet sich gegenseitig zu und lobt das gegenseitige Verhandlungsgeschick. Nichts läßt darauf schließen, daß es bis hierhin ein langer Weg war und nun ideologische Todfeinde gesellig beieinanderstehen und feiern.

Es ist der 23. August 1939 und gerade haben das nationalsozialistische Deutschland und die kommunistische Sowjetunion einen Nichtangriffspakt geschlossen. Zusätzlich unterschreiben beide Parteien ein geheimes (und völkerrechtswidriges) Zusatzprotokoll, mit dem sie Osteuropa unter sich aufteilen wollen, sollte es zu einer „Neugliederung der Interessensphären“ kommen. In den Ländern Europas, insbesondere aber in Warschau, löst die Nachricht von diesem Vertrag Panik aus. Der sich abzeichnende Konflikt mit Deutschland scheint nun unter völlig anderen Vorzeichen zu stehen. Noch bis zum Ende hatten die verbündeten Briten und Franzosen versucht, die Sowjetunion in ein Bündnis gegen Hitler einzubinden oder zumindest Stalin zu einer neutralen Haltung zu bewegen. Mit diesem Pakt, das wußten London und Paris ebenso wie die Beteiligten, ging die Friedenszeit in Europa zu Ende, wie es der Vorsitzende der Kommission des Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR für die politische und rechtliche Beurteilung des sowjetischen Nichtangriffsvertrages von 1939, Alexander Jakolew, 1989 in einem Prawda-Interview ausdrückte.

Eigentlich ist das ausgehandelte Vertragswerk der Außenminister Wjatscheslaw Molotow und Joachim von Ribbentrop für diese Epoche nicht ungewöhnlich. Schon in den Jahren zuvor haben Europas Staaten ähnliche Verträge geschlossen. Nun gehen aber ideologische Todfeinde ein Bündnis ein. Dies beweist vor allem eines: Ideologien sind für Hitler und Stalin nur Mittel zum Zweck, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Sie haben die unumschränkte Macht in ihren totalitären Staaten, wodurch eine solche Kehrtwendung schnell vollzogen ist. So verschwindet die antideutsche Propaganda aus den russischen Medien (und umgekehrt), die Errungenschaften in Deutschland ernten Lobeshymnen – gerade so als ob man sich nicht jahrelang propagandistisch und indirekt – wie im Spanischen Bürgerkrieg – bekämpft hätte. Diese Situation sollte für die Kommunisten im Moskauer Exil sogar lebensbedrohlich werden, wie der gerade verstorbene Publizist Wolfgang Leonhard in seinem Buch „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ eindrucksvoll beschrieb.

In Polen, Rumänien und den baltischen Staaten mehren sich die Gerüchte, daß es zu geheimen Absprachen zwischen Deutschland und der Sowjetunion gekommen sei. Noch am Tage der Unterzeichnung übermittelt der französische Botschafter seiner Regierung einen Bericht, der bereits alle wichtigen Teile des Zusatzprotokolls enthielt. Doch erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geben die Russen zu, daß dieses geheime Zusatzprotokoll überhaupt existiert.

Stalins Aggressionen bleiben ohne politische Folgen

Im Baltikum wird dieser Vertrag bis 1989 zum Trauma werden, insbesondere auch, weil die westlichen Staaten in Politik und Presse gegenüber der sowjetischen Aggression – das gilt selbst im russisch-finnischen Winterkrieg 1939/40 – bemerkenswert milde Töne anschlagen. Die Annektierung der baltischen Staaten nach 1940 durch Stalin bleibt politisch ebenso folgenlos wie der Angriff auf Polen im September 1939. Auch während des Nürnberger Prozesses 1946 wird dem Pakt keine größere Bedeutung zugemessen. Erst nach dem Auseinanderfallen der Anti-Hitler-Koalition und dem Beginn des Kalten Krieges tritt eine Neubewertung des Hitler-Stalin-Paktes ein. Nun deutete man ihn wieder als Bündnis zweier totalitärer Regime, die sich auf Macht-erweiterung verständigt hatten.

Aber auch hinter dem Eisernen Vorhang hatten die Machthaber lange Erklärungsnöte. Dabei erweist es sich vor allem in der DDR als äußerst schwer, einen guten Grund für das Bündnis des „großen Bruders“ mit dem faschistischen Todfeind zu finden. Dort liest sich noch 1988 die offizielle Sichtweise („Deutsche Geschichte in zehn Kapiteln“, Akademie-Verlag) so: „Die Westmächte trachteten danach, die errungene Vormachtstellung im imperialistischen System zu erhalten und einen Krieg mit dem faschistischen Block durch Ablenkung seiner Aggression gegen Osten von sich abzulenken. (...) Die Sowjetunion akzeptierte angesichts der drohenden Gefahr, einem antisowjetischen Militärblock der mächtigsten imperialistischen Staaten gegenüberzustehen, und zur Abwendung eines Zweifrontenkrieges am 22. August 1939 den von der Hitlerregierung unterbreiteten Vorschlag, einen Nichtangriffsvertrag abzuschließen. Die Sowjetunion durchkreuzte damit alle Absichten, eine imperialistische Einheitsfront gegen den ersten sozialistischen Staat herzustellen.“

Foto: Hitlers Fotograf Heinrich Hoffmann (l.) stößt mit Stalin und Außenminister Molotow (dahinter verdeckt) auf den Vertragsabschluß an, Moskau im August 1939: Überraschende Kehrtwendungen

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen