© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/14 / 29. August 2014

Der große Umbruch
Irak: Wenn sich die Verhältnisse ändern, muß das unsere Außenpolitik auch tun
Günther Deschner

Im Nordirak hat Iraks Zentralregierung in Bagdad derzeit nichts mehr zu melden. Nördlich von Tikrit und Kirkuk regieren jetzt entweder die Kurden in ihrer „Autonomen Region Kurdistan“ und angrenzenden Gebieten mit kurdischer Mehrheit – oder es herrscht die fanatisierte Dschihadisten-Gruppe „Islamischer Staat“ (IS), vormals „Islamischer Staat in Irak und Syrien“ (Isis). Es ist, als hätte im Nordirak eine neue Zeitrechnung begonnen.

Während der IS im Nachbarland Syrien vergangene Woche schwere Niederlagen im Kampf gegen Assads Armee einstecken mußte, ist er im Irak in der Vorhand: Sein Vormarsch ist dort schwer zu stoppen, vor allem weil der IS über modernere Infanteriewaffen als die kurdischen Peschmerga und auch über schwere Waffen verfügt, die die irakische Armee bei ihrer panikartigen Flucht aus Mossul zurückgelassen hatte. Eine ironische Note kann man darin sehen, daß es sich um von den amerikanischen Truppen bei ihrem Abzug dem Irak überlassene moderne Waffen handelt.

Aber nicht nur mit Waffen ist der IS gut versorgt, auch finanziell scheint er abgesichert. Wo die Geldströme entspringen, ist weitgehend unbekannt. Einiges dürfte aus Lösegeldern vergangener Entführungen stammen, doch auch einige Golfstaaten spielen eine dubiose Rolle. In Kuwait wurde bis vor kurzem noch im Fernsehen für Spenden für dschihadistische Organisationen wie den IS geworben.

Daß sich die kurdischen Peschmerga in den vergangenen Wochen gegen die Wucht der Angriffe des IS behaupten konnten und daß die Rettung der von der Ausrottung bedrohten Jesiden gelang, hat auch mit zwei unerwarteten Entwicklungen zu tun: Zum einen hat der IS den Kurden vor Augen geführt, daß sie – vor allem für gezielte Luftschläge – die Hilfe der Amerikaner brauchten. Das zeigte ihnen, daß „die einzigen Freunde der Kurden“ doch nicht „die Berge“ sind, wie es in einer beliebten Redensart heißt. Ohne das – nach langem Zögern Obamas – dosierte Eingreifen der US-Luftwaffe hätte das Kräftemessen mit dem IS auch ganz anders ausgehen können.

Auf der anderen Seite hatte die operative Führung des IS wohl auch übersehen, daß trotz aller Streitigkeiten zwischen ihnen auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Kurden über die Grenzen hinweg lebendig ist. Obwohl sich die Peschmerga auf der irakischen Seite, die kurdische PKK in der Türkei und die syrisch-kurdische YPG (ein Ableger der PKK) nicht unbedingt mögen, kam es schnell und unerwartet zum Schulterschluß der Kurdenmilizen im Dreiländereck zwischen Irak, Syrien und der Türkei.

Dies beinhaltet auch eine Lehre für die Nahost- und Kurdenpolitik Washingtons und des Westens. Obama ist der vierte Präsident in Serie, der nun auch militärisch im Irak eingreifen ließ. Vor ihm haben sich Bush senior, Bill Clinton und Bush junior mit teils verheerenden Interventionen versucht. Kein anderes Land hat Amerikas Ehrgeiz und weltpolitischen Willen, aber auch Amerikas Hybris und Scheitern so schonungslos offenbart wie der Irak. Wo immer Washingtons Truppen zuletzt intervenierten, ob im Irak, in Afghanistan oder in Libyen, haben sie desaströse, bestenfalls gemischte Ergebnisse erzielt.

Obama ist sich dessen wohl bewußt. Er scheint zu wissen, daß nicht nur sein Volk der Rolle des Weltpolizisten müde ist, sondern auch, daß die Welt von Amerikas naiven bis brutalen Abenteuern genug hat. Eine zynische Antwort darauf wäre es jetzt gewesen, die Jesiden ihren Peinigern und die Kurden ihrem Schicksal zu überlassen. Die Vereinten Nationen haben sich längst auf die Idee einer globalen Schutzverantwortung geeinigt. Obama stellt sich dieser Verantwortung – in diesem Fall mit angemessenen Mitteln: Er versorgt die Verfolgten und droht ihren Verfolgern.

Daß Amerika eine Restverantwortung für die Welt spürt, die durchaus auch eigenen Interessen dienlich sein kann, ist insofern eine gute Nachricht. Interventionen können verheerend sein. Nichtstun aber auch. Der Kampf gegen die Dschihadisten des „Islamischen Staats“ (IS) hat nun auch die deutsche Politik eingeholt. Nach längerem Zögern und „Grundsatz“-Diskussionen über „Waffen in Krisengebiete“ hat sich – nach Frankreich und England – vergangene Woche auch Deutschland zu Waffenlieferungen an die kurdische Armee im Irak, die Peschmerga, wenn auch mit mehr gewundenen „Gutmenschen“-Worten als nüchternen Argumenten der Realpolitik, bereit erklärt.

Das ist eine richtige Entscheidung, sowohl in der Solidarität mit dem sympathischen, vom Schicksal seiner geographischen Lage gebeutelten, durch rücksichtslose Machtpolitik der Europäer von grausamen Grenzen zerrissenen und gleichwohl tapferen kurdischen Volk – und auch aus Respekt vor uns selbst. Deutschland ist eine europäische Großmacht. Ohne Deutschlands Wirtschaftskraft wäre Europa kaum halb soviel wert, finanziell gesehen ist Deutschland Melkkuh und Zahlmeister des EU-Konstrukts. Doch in der Außenpolitik, so hat es der Auslandschef der Neuen Zürcher Zeitung kürzlich – in einer Mischung von Mitleid und Tadel – formuliert, gehen die Deutschen „meist schuldgebeugt und ganz, ganz leise. Sich offen zu ihren Interessen zu bekennen, fällt ihnen schwer. Macht und deren Durchsetzung bleiben ihnen mit Ausnahme der Euro-Rettung suspekt. Militäreinsätze, selbst Waffenlieferungen, sind Tabuthemen, denen man sich nur auf Umwegen nähern darf.“

Das hat sich mit der Entscheidung zur Lieferung deutscher Waffen zur Selbsthilfe der bedrohten Kurden nun – ein wenig – geändert.

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