© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/14 / 29. August 2014

Der Chauvinismus herrschte auch in Warschau
75 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs: Die Vorgeschichte des Angriffs des Deutschen Reichs auf Polen wird gern ausgeblendet
Stefan Scheil

In diesem September jährt sich der deutsche Angriff auf Polen zum fünfundsiebzigsten Mal. Davon hat man schon im Vorlauf einiges gehört und wird zum Stichtag am 1. September noch eine ganze Menge mehr davon hören. In der Regel wird es offiziell eine Geschichte vom unprovozierten deutschen Überfall auf ein unvorbereitetes Land sein, wonach England und Frankreich sich leider zu ihrem großen Bedauern gezwungen sahen, dem Deutschen Reich den Krieg zu erklären.

Das ist die Version, mit der sich die breitere nationale wie internationale Öffentlichkeit ganz gut eingerichtet hat. Es ist aber auch eine Version, die von den Tatsachen nicht gedeckt wird. Der Krieg von 1939 begann nicht als unprovozierter Überfall, sondern als Folge einer monatelangen politischen Krise und der jahrelangen Verfolgung politischer Ziele in den Ländern, die Deutschlands Kriegsgegner werden sollten.

Die Haltung der Republik Polen bestimmte dieses Szenario wesentlich mit. Die Gründe dafür lagen sowohl in einem romantisch-aggressiven Geschichtsbild, als auch in den Möglichkeiten und Gefahren, die in der Versailler Nachkriegsordnung zu liegen schienen. Zum einen fühlte sich die polnische Elite wegen der polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts und dem damit verbundenen Verlust der staatlichen Existenz von der Geschichte und der internationalen Politik betrogen. Mit diesem Gefühl war es auch keineswegs zu Ende, nachdem Polen seit dem Ersten Weltkrieg wieder als Staat auf der europäischen Landkarte zu finden war. So groß der neue Staat auch geworden war, so groß wie der alte von 1772 war er eben nicht. Daran änderten auch die weiteren Teilerfolge durch gewaltsame Aktionen nichts Grundsätzliches. Die polnischen Angriffe auf die Sowjetunion 1920 oder auf das deutsche Oberschlesien 1921 brachten Gebietsgewinne, aber nicht den erhofften ganz großen Schlag.

Polens langer Traum von der Oder-Neiße-Grenze

Dennoch herrschte in der polnischen Entscheidungsebene zwischen 1919 und 1939 stets der Eindruck, daß die großen Entscheidungen noch nicht endgültig gefallen seien. Marschall Józef Piłsudski, als Kriegslegende aus dem Ersten Weltkrieg eine charismatische Figur und seit 1926 bis zu seinem Tod im Jahr 1935 der starke Mann in Warschau, impfte in diesem Sinn eine ganze Schar von Vertrauten aus dem Ersten Weltkrieg.

Systematisch wurden Ämter und Botschafterposten mit Personen besetzt, die damals in seiner „polnischen Legion“ gedient hatten. Gemeinsam war ihnen allen die persönliche Einsatzbereitschaft, die Militanz und die Fähigkeit zur Verschwiegenheit. Piłsudskis erklärter Grundsatz war, daß noch einmal in kurzer Frist eine Ära kommen würde, in der das politische System und die europäische Staatenwelt grundsätzlich auf dem Prüfstein stehen würden. Sich darauf vorzubereiten und möglichst günstig in diese Situation einzutreten, das wurde der oberste Grundsatz der polnischen Politik. Intellektuelle wie der Posener Historiker Zygmunt Wojciechowski agitierten im Sinne des populär werdenden „Westgedankens“ für eine künftige Ausdehnung Polens auf Kosten Deutschlands bis an Oder und Neiße, um „piastische Gebiete“ aus der Zeit des Herzogs Miesko I. (um 1000 n. Chr.) „wiederzugewinnen“.

1938/39 schienen nun genau diese Umstände eingetreten zu sein. In Europa wurden neue Grenzen gezogen, zunächst zugunsten Deutschlands, aber begleitet von Krisen, die bis in die Nähe des Krieges führten. Im Warschauer Außenministerium beschloß man im Sommer 1938, sich nach außen weiterhin neutral bis deutschfreundlich zu geben. Falls aber die Westmächte militärisch gegen Deutschland einschreiten würden, könnte er in vierundzwanzig Stunden an deren Seite ein, erklärte der polnische Außenminister Józef Beck bei dieser Gelegenheit. Im Frühjahr 1939 erreichte er scheinbar sein Ziel. Die damals geschlossenen polnisch-britisch-französischen Abmachungen ermöglichten formal eine gemeinsame Kriegsführung gegen Deutschland. Die Partner hatten versprochen mitzuziehen und Polen konnte diesen Krieg selbst auslösen. Will man dem früheren deutschen Reichskanzler Heinrich Brüning glauben, der diese Verhandlungen im Londoner Exil miterlebte, dann wurde Warschau dafür auch bezahlt, mit dem Versprechen auf Danzig, Ostpreußen und weitere Teile Oberschlesiens.

An diesem Punkt kam die deutsche Zivilbevölkerung in der Republik Polen ins Spiel. Seit 1919 hatte man daran gearbeitet, sie entweder zu vergraulen, gezielt zu enteignen und zu vertreiben oder zu polonisieren. Weit mehr als eine Million Deutsche hatten Polen in der Folgezeit denn auch bereits verlassen. Gegen die im Land verbliebenen Deutschen wurden seit Frühjahr 1939 Wirtschaftsboykotte organisiert, aber auch massenhaft Gewalt verübt, was noch einmal zu einem Flüchtlingsstrom von etwa siebzigtausend Menschen führte, die nach Deutschland entkommen wollten.

Daß dies so war und welchen Sinn dies hatte, darüber haben sich etliche zeitgenössische Berichte erhalten. Eine trockene Analyse einer deutschen Dienststelle aus dem Juni 1939 sah vor allem den militärischen Nutzen für Polen: „Besonders hervorgehoben werden muß, daß man zur Zeit den Übertritt von Minderheiten nach Deutschland erlaubt und begünstigt. Da es sich hier um Maßnahmen der Wehrmacht handelt, kann man sie als weitere Vorbereitungen für den Kriegsfall bezeichnen, um Unzuverlässige aus dem eigenen Lande abzuschieben. In die gleiche Richtung fallen die Schließungen der Krankenhäuser und Vereinshäuser der Minderheiten.“

Für diejenigen Deutschen, die nicht gehen wollten und doch als unzuverlässig betrachtet wurden, planten die polnischen Behörden seit Frühjahr 1939 jene Deportationsmärsche in Richtung Ostpolen, die dann bei Kriegsbeginn massenhaft stattfanden. Als Vorwand diente die angeblich geplante „Diversionstätigkeit“ der Deutschen, gepaart allerdings oft mit der kaum verhehlten Agitation, daß sie östlich der Oder eigentlich ohnehin nichts verloren hätten.Der polnisch-deutsche Konflikt hatte in seiner brutalen Grundsätzlichkeit eine lange Vorgeschichte, die sich in den Tagen vor und nach dem Kriegsausbruch sofort in den Morden an der deutschen Minderheit in Polen zeigte und in der nicht weniger gewalttätigen deutschen Antwort ihre Fortsetzung fand.

Die polnische Publizistik des Jahres 1939 hatte es sich nicht nehmen lassen, in zahlreichen Veröffentlichungen die alte Behauptung zu wiederholen, daß die deutsche Ostgrenze eigentlich kurz vor Berlin zu liegen habe. Deutsche Dienststellen berichteten im Juni 1939, daß die Stimmung von Armee und Volk durch zahlreiche Kampfschriften und Zeitungsartikel in Kriegsbereitschaft gehalten würde: „Eigene Pläne zur Erweiterung Großpolens, der Hinweis auf die zukünftige ‘Schlacht bei Berlin’ und die neuen polnischen Staatsgrenzen an der Oder unterstützen die Militarisierung der polnischen Volkspsyche. Eine weitere Förderung der moralischen Kraft verspricht man sich von der Tannenbergfeier (Grunwald), die zu diesem Zweck auf Anfang Juli 1939 vorverlegt wird.“

Der polnische Botschafter in Berlin wies seine Regierung am 28. Juni 1939 darauf hin, daß die jüngste Resolution der Nationalpartei, in der Ostpreußen und die Oder-Grenze gefordert worden waren, in Deutschland aufmerksam registriert und ihrerseits veröffentlicht worden war. Er mahnte seine Regierung, vorsichtiger vorzugehen. In der Tat waren solche Resolutionen und entsprechende Zeitungsartikel in einem autoritären Staat wie der Republik Polen nicht ohne Wissen und Billigung der Regierung möglich, was der polnische Vertreter in Danzig, Marjan Chodacki in einem Gespräch mit dem Danziger Senatspräsidenten Arthur Greiser auch ohne Umschweife eingestand.

Massenmord an mehr als 5.000 deutschen Zivilisten

Nimmt man diese auf territoriale Machtausdehnung ausgerichtete Haltung Warschaus zum Maßstab, ist es wenig verwunderlich, daß die bis in die letzten Stunden aus Berlin vorgenommen Vermittlungsversuche über eine friedliche Verhandlungslösung zur „Korridorfrage“ nie eine Chance auf Akzeptanz bei den selbstbewußten Militärkreisen um Edward Rydz-Śmigły oder Felicjan Składkowski in der polnischen Regierung hatten. Denn selbst die geringfügigste Revision der Versailler Ordnung in der früheren preußischen Provinz Westpreußen wäre in allen Verhandlungsmodellen zum Nachteil Polens ausgegangen. Dasselbe gilt für den Freistaat Danzig, wo Polen das Post- und Bahnwesen kontrollierte und mit dem – seit 1936 illegal zur militärischen Festung ausgebauten – Militärstützpunkt Westerplatte den Zugang zum Danziger Hafen beherrschte.

Nach Kriegsbeginn wurde aus Mißhandlung und Flucht ein Massenmord an der deutschen Zivilbevölkerung an vielen Orten in Polen. In diesem Zusammenhang ist der bekannteste Ortsname Bromberg, wo sich der Totschlag an mehreren hundert Menschen und der anschließende Deportationsmarsch überkreuzten. Konrad Jarausch, der Vater des späteren langjährigen Leiters des Potsdamer Zentrums für zeitgeschichtliche Forschung, notierte damals als Soldat in seinem Tagebuch, wie er auf die Überlebenden traf: „Es waren Bromberger, die den Marsch über Thorn (bis dahin an den Händen zu zweien zusammengefesselt) nach Lowicz mitgemacht hatten. Bei denen, die das Wort führten, war ein grenzenloser Haß das Ergebnis. (...) Sie hatten in Lowicz mit 5.000 anderen schon an der langen Kirchhofsmauer gestanden. Die Maschinengewehre waren aufgebaut. Da schlugen die ersten Granaten ein. Die deutschen Truppen wußten von dem Schicksal der Leute und hatten den Sturm einen Tag vorgelegt.“ („Das stille Sterben“, Paderborn 2008)

Für wenigstens fünftausend andere Polendeutsche kam jede Hilfe zu spät; sie wurden als Leichen gefunden, oder tauchten nie wieder auf. Solche Dinge sprachen sich herum und fanden auch Niederschlag in den Aufzeichnungen der deutschen Opposition im Untergrund. Die Berichte der Sozialdemokratischen Partei deuten das Drama auch nur an, aber sie verzeichnen Zustimmung der Bevölkerung, die nur im persönlichen Gespräch erfuhr, was die deutsche Presse immer noch nur zurückhaltend berichtete: „Polen ist nun erledigt. Die Berichte der deutschen Soldaten haben um ein Vielfaches das übersteigert, was die deutsche Presse und der Rundfunk über die Vorgänge in Polen berichtet hatten. Deshalb jetzt allgemeines Verständnis für das rigorose Vorgehen der deutschen Amtsstellen in Polen.“

Es kam danach tatsächlich eine Zeit, in der in Europa noch einmal alles auf dem Prüfstein stand. Daß diejenigen, die das auf vielen Seiten in Europa erwartet hatten, es auch mit beschleunigt haben, ist an sich fast ein Gemeinplatz. Es gibt viele Geschichten, die über den 1. September 1939 zu erzählen sind, auch das offiziell völlig verdrängte Sterben von vielen tausend Deutschen Zivilisten rund um dieses Datum gehört dazu.

 

Dr. Stefan Scheil ist Historiker und hat zahlreiche Publikationen zur internationalen Außenpolitik der dreißiger und vierziger Jahre veröffentlicht, die bekannteste ist „Fünf plus Zwei. Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“ in vier Auflagen (Duncker & Humblot, Berlin 2001, zuletzt 2009).

 

Stefan Scheil: Polen 1939. Kriegskalkül, Vorbereitung, Vollzug. Kaplaken Band 37. Verlag Antaios, Schnellroda 2013, gebunden, 96 Seiten, 8,50 Euro

Foto: Polens Außenminister Józef Beck und Ministerpräsident Felicjan Składkowski: Briten versprachen Danzig und Ostpreußen als Beute

Foto: Bergung ermordeter Volksdeutscher und die zur Identifizierung anwesenden Angehörigen in der Nähe von Bromberg, September 1939: Die polnischen Massenmorde schufen „grenzenlosen Haß“

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