© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/14 / 29. August 2014

Der Flaneur
Der kahle Hipster
Sebastian Hennig

Um von Hackney in die Londoner City zu gelangen, bedarf es eines der legendären roten Omnibusse. Wir warten an der Bushaltestelle schon eine ganze Weile, und kein roter Doppelstöcker erscheint. Dann setzen die Bewegungen der urbanen Schwarmintelligenz ein. Offenbar wird diese Haltestelle von jenem Omnibus heute nicht bedient.

Vor mir läuft ein flotter Typ in der ultimativen Haartracht des jung-lässigen Londoners.

Die kleine Wartegemeinschaft strebt dem nächsten Zustiegspunkt einer stadtwärtigen Linie zu. Vor mir läuft ein flotter Typ in dunkler Jacke, modisch beschuht und mit jener HJ-Frisur, die seit Jahren die ultimative Haartracht des jung-lässigen Londoners ist: Das untere Haupthaar millimeterkurz geschoren, darüber hängen oder liegen dann die strähnigen Deckhaare. Man kennt das von dem tätowierten Fußballer aus der Schlüpferreklame. Auch den Mann vor uns umweht das Air unwiderlegbarer Stilsicherheit. Wir sind in London.

Endlich an der rechten Haltestelle. Es dauert nur ein Weilchen, und wir steigen ein, das Treppchen hinan, auf welchem man beim Aussteigen so rasch herunterpurzeln kann, wenn man das Bremsverhalten des Busfahrers nicht einkalkuliert.

Wir nehmen auf dem Oberdeck Platz, zwei Bankreihen hinter dem flotten Typen. Die Fahrt verläuft schleppend. Beim Wechselblick auf die Straße herab und auf die Passagiere um mich herum geht mir unversehens ein Licht auf. Es enthüllt sich die nackte Wahrheit. Unter den parallel nach hinten gekämmten Strähnen des Deckhaars unseres Vorvorsitzers schimmert wie durch ein Schleusengitter die obszöne Lichtung seines kreisrunden Haarausfalls. Die Flottheit ist nur der getrimmte Rahmen um ein leeres Passepartout. Manche Menschen sind halt nur in der Bewegung schön.

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