© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/14 / 05. September 2014

„Das christliche Morgenland“
Steht das Christentum im Nahen Osten vor dem Untergang? Die Anzeichen mehren sich. Damit verschwände nicht etwa eine Minderheit, sondern die „Ureinwohner“ und ehemalige Mehrheit, denn der Orient, so Theologieprofessor Martin Tamcke, war ursprünglich christlich.
Moritz Schwarz

Herr Professor Tamcke, Peter Scholl-Latour nannte es immer wieder eine „große Schande“, daß das christliche Europa das Verschwinden der Christen im Nahen und Mittleren Osten kaum kümmert.

Tamcke: Das zeigt, daß er Geschichtsbewußtsein hatte, denn nicht das Abendland, sondern das Morgenland ist das eigentliche christliche Mutterland.

Sie sprechen von Jerusalem?

Tamcke: Nichts wäre falscher, als sich unter dem christlichen Orient lediglich das Heilige Land vorzustellen. Nein, ich spreche vom gesamten Vorderen Orient, bis hinein in den Irak.

Der Irak ist christliches Kernland?

Tamcke: Ich weiß, das klingt ungewohnt, aber ja.

Das Christentum kommt bekanntlich aus dem Orient, aber dennoch war es hier immer nur in der Minderheit. Eigentlich sind diese Länder doch islamisch.

Tamcke: Grundfalsch! Jahrhundertelang waren die Länder des Vorderen Orients – die heutige Türkei, Syrien, Libanon, Palästina, Ägypten, Nordafrika – fast zur Gänze christlich. Den Islam gab es damals noch gar nicht, und sie waren so selbstverständlich christlich, wie uns heute Europa sozusagen als „von Natur aus“ christlich erscheint. Und nicht nur das, von hier aus wurde Europa überhaupt erst christianisiert.

Die Christen im Osten sind also keine Folge europäischer Mission, sondern umgekehrt, die europäischen Christen sind Produkt des Ostchristentums?

Tamcke: Ganz genau, beim Wort Christentum dachte ursprünglich keiner an Europa, sondern ganz selbstverständlich an den Orient, hier schlug das Herz des Christentums, von hier aus, von Syrien über Kleinasien kam das Christentum die Mittelmeerküste entlang nach Europa. Die Ostchristen, nicht wir Europäer, sind historisch gesehen die „eigentlichen“ Christen. Und dort im Morgenland waren über Jahrhunderte die großen Zentren der christlichen Welt.

Was ist dann mit unserer traditionellen Vorstellung vom christlichen Abendland und muselmanischen Morgenland?

Tamcke: Die ist gar nicht so traditionell, sondern geschichtlich gesehen eher neu. Ursprünglich ist das Morgenland „der“ Kulturraum der Christen. Erst mit der Zeit wurde auch der westliche Mittelmeerraum christianisiert. Am Ende der Antike ruht das Christentum auf drei Säulen: Die zentrale Säule war wiederum nicht unser westliches Christentum, sondern das orthodoxe Christentum im östlichen Mittelmeer und Nahen Osten. Darum gruppierten sich im Westen unser vergleichsweise junges lateinisches Christentum und im Mittleren Osten das syrische Christentum.

Mit „syrisch“ ist aber nicht der heutige Staat Syrien gemeint?

Tamcke: Ganz und gar nicht. Das heutige Syrien ist nur ein ganz kleiner Teil dessen, was das syrische Christentum einmal war. Dieses – das sich noch einmal in Westsyrer, die sich auch Aramäer nennen, und Ostsyrer, auch Assyrer genannt, unterteilt – hatte seine Zentren im heute türkischen Edessa und im heutigen Irak.

Wie kommt das Christentum in den Irak?

Tamcke: Wir setzen die Ausbreitung des Christentums gerne mit der Ausbreitung des Römischen Reiches gleich. Das stimmt für den Westen, aber nicht für den Orient. Im Osten an das Römerreich grenzend, entstand das Neupersische Reich der Sassaniden und in diesem, aus einer starken jüdischen Präsenz heraus, ein eigenständiges Christentum.

Deshalb befindet sich das Grab des Propheten Jona, das die Islamisten der Isis jüngst zerstört haben, im irakischen Mossul?

Tamcke: Ja, denn Zentrum dieses Perserreiches war nicht etwa – wie man annehmen könnte – der heutige Iran, sondern der heutige Irak, also Mesopotamien. Anders als im Römischen Reich blieben die Christen im Perserreich, das mehrheitlich einem persischen Kult anhing, allerdings in der Minderheit. Dennoch entstand hier eine lebendige Kirche, die kein Randphänomen war, sondern aus der sich – neben denen in Kleinasien, Syrien und Ägypten – weitere Zentren der damaligen Christenheit bildeten. Denken Sie auch daran, daß schon in der biblischen Schöpfungsgeschichte Mesopotamien eine zentrale Rolle spielt, daß dort Euphrat und Tigris als die Urströme genannt werden. Und Abraham, unser jüdischer und christlicher Urvater, stammt keineswegs aus Palästina, sondern aus Syrien und Mesopotamien. Von hier aus gingen entscheidende Impulse für die gesamte Christenheit aus.

Zum Beispiel?

Tamcke: Etwa wurden hier grundlegende Glaubenslehren des Christentums definiert, die unsere europäische Kultur bis heute bestimmen. Hier gab es bereits eine Art Hochschule, wie sie damals in Europa noch völlig unbekannt war. Viel antikes Wissen ist von hier viel später an die Araber übergegangen, über die es dann noch später wiederum nach Europa gelangte. An dieser Hochschule wurde auch eine christliche Exegese entwickelt, die auf die Historie gerichtet war – im Gegensatz zur allegorischen Exegese aus Alexandria. Zur Verdeutlichung: Die allegorische Exegese sucht einfach die Entsprechung in der Gegenwart und ist sehr frei, kann bis ins Assoziative gehen, während die historische Exegese immer die historisch korrekten, konkreten Sachzusammenhänge benennen muß. Sie können unschwer erkennen, wie schnell man da bei unserer modernen Exegese ist, die auch stets den Anschluß an die Geschichte sucht. Da sehen Sie eine Quelle unseres modernen europäischen Denkens.

Das syrische Christentum erstreckte sich schließlich gar bis zum Pazifik.

Tamcke: Ja, im Mittelalter wird die ostsyrische Kirche in Mesopotamien zur größten Kirche der Welt. Ihre Kernländer reichten im Norden bis in den Kaukasus, im Westen bis nach Zypern, im Süden bis auf die Arabische Halbinsel und an die Pforten Ägyptens und im Osten bis tief in den Iran. Doch sie griff noch weiter aus, reichte schließlich bis nach Indien, ans Horn von Afrika, ja bis nach China und sogar Japan. Damals gibt es gar einen Metropoliten von Peking! Ja, im geographischen Raum des heutigen China entstanden ganze Königreiche, die christlich waren. Selbst die Mongolenkhane waren zum Teil christlich sozialisiert. Sie sehen, im Orient sind die Christen also keineswegs Gäste, im Vorderen Orient sie sind vielmehr sogar eigentlich die Hausherren.

Warum sind sie das heute nicht mehr?

Tamcke: Weil im siebten Jahrhundert die Araber den Vorderen Orient überrannten und den Islam brachten. Allerdings waren die Länder, die sie eroberten, dennoch weiterhin überwiegend christlich. Die islamischen Araber bildeten nur eine dünne militärische Führungsschicht. Es dauerte nochmal teilweise Jahrhunderte, bis die fast gänzlich christliche Bevölkerung unter dem Islamisierungsdruck konvertiert war. Die Türkei war noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu zwanzig Prozent christlich, der Libanon bis vor wenigen Jahrzehnten sogar mehrheitlich ein christliches Land. Die Konversion der Mehrheit in den meisten betroffenen Ländern erfolgt aber in den folgenden Jahrhunderten nach der arabischen Eroberung, so daß die Islamisierung etwa bis zu den Kreuzzügen abgeschlossen war, die Christen in der Minderheit waren.

Dann ist die Idee der Kreuzzüge gar nicht so abwegig, wie sie uns heute erscheint. Motto: Was hatten wir Christen in diesen urmuslimischen Ländern zu suchen?

Tamcke: Das ist in der Tat im Grunde eine ahistorische Sicht. Aus damaliger Perspektive waren es alles andere als „urmoslemische“ Gebiete, vielmehr sahen die Zeitgenossen sie als lediglich moslemisch eroberte, eigentlich christliche Länder. Und lange glaubten die Kreuzfahrer auch, daß hinter den islamisierten Ländern des Vorderen Orients ein großes christliches Königreich überlebt habe, das sagenumwobene Reich des Priesterkönigs Johannes. Dieses Reich gab es zwar nie, aber die ostsyrische Kirche hielt sich dort noch bis ins 15. Jahrhundert, bevor sie unter dem Ansturm islamischer Mongolen – die zuvor beinahe das syrische Christentum übernommen hätten – zusammenbrach, da diese sich nicht mehr, wie zuvor die Araber, auf Schutzverträge einließen. Damit waren die syrischen Christen in China, Japan und Indien abgeschnitten und schwanden von nun an zusehends. Allerdings gibt es bis heute Reste, in Indien etwa die sogenannten Thomaschristen, die also keine europäischen Missionschristen sind, sondern sozusagen Urchristen.

Mohammed war bekanntlich vom Christentum beeinflußt. Kann man sagen, ohne christlichen Orient kein Islam?

Tamcke: Sehr wohl! Denn der Koran ist das Produkt eines Diskurses, er ist nur zu verstehen, wenn man erkennt, daß er eine Reaktion auf jüdische und christliche Impulse und Texte darstellt.

Wann verschwand das Bewußtsein der Europäer dafür, daß nicht sie, sondern der Orient eigentlich Wiege und Zentrum des Christentums ist?

Tamcke: Die Eroberung von Byzanz durch die Türken und die Entdeckung neuer Länder jenseits der Ozeane ab dem 15. Jahrhundert haben dazu geführt, daß der Blick der Europäer sich nicht mehr nach Osten, sondern nach Westen wandte und die Erinnerung an den einst durch und durch christlichen Orient verblaßte.

Wenn nun mehr und mehr Christen den Nahen und Mittleren Orient verlassen, ist das also keine Petitesse?

Tamcke: Im Gegenteil, da fliehen ja sozusagen die Urchristen aus der Heimat des Christentums. Eine fast zweitausendjährige Kultur steht vor dem Aus, und das Christentum droht seine geschichtlichen Wurzeln zu verlieren. Dabei sind Exzesse wie im Irak durch islamistische Kämpfer nur die Spitze des Eisbergs. Tatsächlich hat der Irak in den letzten zehn Jahren über zwei Drittel seiner 1,5 Millionen Christen verloren – ganz ohne IS-Terror.

Aber der Irak war von westlichen – christlichen – Besatzungstruppen besetzt.

Tamcke: Ich weiß, es ist absurd.

Wie war das möglich?

Tamcke: Man hat mit dem Sturz des Regimes Hussein das Land destabilisiert. Liberale Kräfte gibt es zwar, aber diese sind zu schwach, die Gesellschaft zu übernehmen. Also brechen sich islamistische Kräfte Bahn. Die Christen fliehen ja nicht nur aus dem sunnitischen Norden, wo der IS wütet, sondern haben ebenso den schiitischen Süden verlassen, obwohl dort keine Terrorbrigaden, sondern die irakische Regierung herrscht. Im Grunde fliehen die Christen aus allen Ländern des Nahen und Mittleren Orient, weil der Druck der Islamisierung immer größer wird. Das heißt nicht, daß sie alle verfolgt werden, aber den Christen wird das Leben so schwer gemacht, daß immer mehr die Koffer packen und in den Westen gehen. Nehmen Sie die Türkei, die heute noch 0,2 Prozent Christen hat.

Steht das Christentum im Orient nach fast 2.000 Jahren in unserer Zeit tatsächlich vor seiner historischen Auslöschung?

Tamcke: Das läßt sich noch nicht abschließend sagen, aber wenn die Entwicklung in den kommenden Jahren so weitergeht, fürchte ich, wird genau das passieren. Es ist eine große Enttäuschung, daß das die Christen im Westen so unberührt läßt. Natürlich leisten unsere Kirchen viel an humanitärer Hilfe im Osten, aber inhaltlich sind sie doch vor allem mit sich selbst beschäftigt, statt mit dem Schicksal ihrer Glaubensbrüder. Frei nach einem Wort des Kirchenhistorikers Rudolf Strothmann: Es ist nur Klamauk, was von den Kirchen zu solchen Vorgängen zu vernehmen ist, darüber wird die Weltgeschichte hinweggehen. Ich fürchte, so wird es kommen.

 

Prof. Dr. Martin Tamcke, lehrte zunächst Geschichte der Ostkirchen an der Philipps-Universität zu Marburg, seit 1999 Ökumenische Theologie und orientalische Kirchen- und Missionsgeschichte an der Georg-August-Universität zu Göttingen. Die Evangelische Kirche in Deutschland berät er in Fragen der orientalisch-orthodoxen Kirchen. Zeitweilig gehörte er der EKD-Kommission für den Dialog mit der Russisch-Orthodoxen Kirche an. Regelmäßig lehrt Tamcke auch als Gastprofessor an orthodoxen oder islamischen Fakultäten im Ausland. Und er ist Vize-Direktor am „Institut für die Kulturen Europas und des Mittelmeerraums in der Antike“. Zum Thema Ostchristentum publizierte er etliche Bücher, etwa „Orientalische Christen zwischen Repression und Migration“ (2001), „Orient am Scheideweg“ (2003), „Das orthodoxe Christentum“ (2004) oder „Christen in der islamischen Welt. Von Mohammed bis zur Gegenwart“ (2008). Geboren wurde Martin Tamcke 1955 in Bremerhaven.

 

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