© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/14 / 05. September 2014

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Nur zwölf Prozent der Bundesbürger akzeptieren die Ausforschung ihrer privaten Daten durch den Staat. In Großbritannien sind es siebenundzwanzig und in den USA sogar neunundvierzig Prozent. Wie verträgt sich das mit der üblichen Auffassung von der Obrigkeitsgläubigkeit der Deutschen und der Staatsskepsis der Angelsachsen? Gar nicht – wenn man Platitüden zum Nennwert nimmt. Problemlos – wenn man sie beiseite läßt und sich klarmacht, wie weit in Großbritannien und den USA seit je kollektives Selbstbild und Tatsachen auseinanderklaffen.

Was haben die Gesetzesinitiative der Bundesregierung zur Bekämpfung von Sozialmißbrauch durch Armutsmigranten, der Skandal um die Kindervergewaltigergang pakistanischer Herkunft in Großbritannien und die Feststellung, daß sich 2.000 Dschihadisten mit europäischen Pässen im Nahen Osten aufhalten gemeinsam? Antwort: Alles die Folge von Vielfalt und Ignoranz.

Die Schlagzeile der Bild-Zeitung, der zufolge die Kanzlerin einen „Psycho-Guru“ einstellen wolle, führt natürlich in die Irre. Denn die Suche der Regierungsmannschaft nach Verhaltensökonomen, die in der Lage sind, jene Tricks zu verraten, mit denen man die Bürger sanft, aber nachhaltig in die richtige Richtung drängt, hat mit solcher Absicht wenig zu tun. Vielmehr geht es um eine Variante von soft power, also „weicher“ Machtausübung, die indirekt und nicht direkt agiert, eher überredet als überwältigt. Man darf das problematisch finden, neu ist es nicht, sondern Gegenstand aller möglichen Überlegungen zur Herrschaftsausübung, angefangen bei der antiken Rhetorik über die Empfehlungen Machiavellis bis zu den Erwägungen, die die Väter der modernen politischen Reklame anstellten. Interessanter ist im konkreten Fall das unausgesprochene Eingeständnis, daß eine immer heterogenere und immer stärkeren zentrifugalen Kräften ausgesetzte Gesellschaft nur noch auf solche Weise zusammengehalten werden kann, und daß es beim Versagen bloß eine Alternative gäbe: offener statt versteckter Zwang.

Die Wortkombination „dummdreist“ hat ihren guten Sinn: Die Klugen und die Feinen stehen der überfallartigen Konfrontation mit Zumutungen immer hilflos gegenüber.

Heinrich August Winkler bedauert, daß die deutsche Alleinschuld am Ersten Weltkrieg in Frage gestellt wird und daß ob der Debatte über die Verantwortung für 1914 die für 1939 ins Hintertreffen gerät, vor allem aber bedauert er, daß man die Bedeutung der deutschen „Kriegspartei“ im Vorfeld des einen wie des anderen Konflikts ignoriere. Denn die sei größer als in jedem anderen beteiligten Staat gewesen. Um es klar und deutlich zu sagen: Das stimmt nicht. Woraus selbstverständlich Schlußfolgerungen zu ziehen sind, und erst dann bekommt die Rede vom zweiten „Dreißigjährigen Krieg“ ihren eigentlichen Sinn. Das heißt nicht den, den Winkler ihr mit einem Zitat De Gaulles unterschiebt, der nahelegt, der ewige Pangermanismus sei der eigentliche Treiber gewesen, sondern in dem Sinn, wie der Begriff von Churchill wie von Stalin gebraucht wurde – und da sind die Gewichte deutlich anders verteilt, da geht es um den langen Kampf gegen einen mißliebigen Aufsteiger, den man nur mit vereinten Kräften in die Knie zwingen konnte.

Frustrierte Bilanz der Urlaubslektüren einer Heranwachsenden, die Empfehlungen von Fachkräften folgte: eine Geschichte von einem halbwüchsigen Mädchen, das von seinem Großvater systematisch vergewaltigt wird („Rotkäppchen muß weinen“; Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis), eine von zwei halbwüchsigen Mädchen, die von ihrer drogensüchtigen Mutter zur Prostitution gezwungen werden („Wenn ihr uns findet“), eine über Krebskranke („Das Schicksal ist ein mieser Verräter; gerade verfilmt), eine über die Welt, in der Homosexualität der Normalfall ist („Will und Will“).

„Künstler sind menschlich meist sehr viel wertvoller als Gelehrte. Ihr Hirn hat meist einen Sprung, aber ihr Herz ist gut. Bei den Gelehrten verhält es sich umgekehrt.“ (Clemens von Metternich)

Moment der Irritation: Eine Firma, die zu den führenden Billigfluganbietern zählt, trägt den Namen „Aryan Travels“; wenigstens ist der Sitz Los Angeles.

Nach den Enthüllungen des Separatistenchefs Sachartschenko über die faktische Präsenz einiger tausend russischer Soldaten auf ukrainischem Boden bleiben für die hartnäckige Verteidigung der Politik Putins nur noch ein paar sehr einfache Deutungsmöglichkeiten: a) prinzipielle Bewunderung für „echte Männer“, b) prinzipieller Haß auf die USA und den Westen, c) Russophilie (wahlweise sowjetisch-postsowjetisch, eurasisch, nationalbolschewistisch gestimmt oder Modell „Rapallo“)

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 19. September in der JF-Ausgabe 39/14.

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