© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/14 / 05. September 2014

Kriegsausbruch in Zeitlupe
Der Erste Weltkrieg in den afrikanischen Kolonien: Deutsch-Ostafrika hoffte im August 1914 vergeblich auf seine „Neutralisierung“
Paul Leonhard

Die Schlacht bei Tanga war schon einen Monat geschlagen, als die Kaiserliche Verordnung „über den Kriegszustand in den Schutzgebieten“ Anfang Dezember 1914 den Adressaten in Deutsch-Ostafrika erreichte. Das Papier stärkte theoretisch die Position von Gouverneur Heinrich Schnee, der immer noch halbherzig versuchte, das Schutzgebiet aus dem europäischen Krieg herauszuhalten. Praktisch hatte aber längst Oberstleutnant Paul von Lettow-Vorbeck, Kommandeur der Schutztruppe, das Sagen. Nach erfolgreichen Scharmützeln war es seinen Einheiten gelungen, die britischen und indischen Landungstruppen bei Tanga so vernichtend zu schlagen und zurück auf die Schiffe zu jagen, daß diese Schlacht noch heute den Briten als „einer der bemerkenswerten Fehlschläge“ ihrer Militärgeschichte gilt.

„Prestige der weißen Rasse“ nicht durch Krieg gefährden

Lettow-Vorbeck hatte seit Kriegsausbruch die militärische Auseinandersetzung mit Großbritannien und Belgien forciert, um möglichst viele gegnerische Kräfte in Afrika zu binden. Ein Vorgehen, das zumindest anfangs nicht nur vom Gouverneur, sondern auch von Teilen des Offizierskorps heftig kritisiert wurde. Sie hofften noch, daß in Europa die Neutralität Deutsch-Ostafrikas entsprechend der Kongoakte von 1885 berücksichtigt wird. Lettow-Vorbeck dagegen schuf Tatsachen und setzte damit das um, was die deutsche Politik längst beschlossen hatte: „Ob nach der Erklärung des Kriegszustandes die Zivilverwaltung dem militärischen Befehlshaber zu unterstellen war, sollte jeweils im Einzelfall entschieden werden“, schreibt Tanja Bührer in ihrer Abhandlung „Die Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. Koloniale Sicherheitspolitik und transkulturelle Kriegsführung 1885 bis 1918“ (München 2011).

Vergeblich hatte der Reichstag über klare Zuständigkeiten im Kriegsfall debattiert. Zwar legte Artikel 68 der Reichsverfassung eindeutig fest, daß der Kaiser den Kriegszustand erklären konnte, unklar blieb aber, was das für die deutschen Überseebesitzungen bedeutete und speziell für Deutsch-Ostafrika? Es fehlte ein Reichsgesetz und die Militärbefehlshaber in den Kolonien verwiesen auf ein preußisches Gesetz von 1851, nach dem sie für ihren Befehlsbereich bei „Gefahr im Verzug“ den Kriegsfall auslösen konnten.

Theodor Seitz, Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika, behagte diese Interpretation der Militärs wenig. „Was soll ich für den Fall eines Krieges machen?“ klagte er im April 1913: „Die Verhängung des Kriegszustandes durch den Gouverneur wird heute beim Mangel jeglicher gesetzlicher Bestimmungen in Südwest kein Richter anerkennen.“ Seitz hatte vor allem Angst, daß er für Schadensersatzforderungen durch weiße Siedler haftbar gemacht würde.

Auch auf anderen Gebieten herrschte Unklarheit. Als Ende 1911 eine Überarbeitung der Dienstvorschriften im Mobilmachungsfall anstand, wurde auf eindeutige Regelungen für die Postbediensteten in den deutschen Überseebesitzungen gedrungen. Wem sollten sie sich im Fall der Fälle unterstellen: dem Gouverneur oder dem Militärbefehlshaber? Ein Problem, das auch bei der Diskussion über das Schutztruppengesetz zutage trat.

Im Fall von Deutsch-Ostafrika sorgte noch die sogenannte Kongoakte für weitere Ungewißheiten. 14 Staaten hatten dieses Abkommen Anfang 1885 unterzeichnet. Der Vertrag enthält eine „Erklärung, betreffend der Neutralität der in dem konventionellen Kongobecken einbegriffenen Gebiete“. In Artikel 11 wird auf Handlungsoptionen im Fall eines europäischen Waffenganges eingegangen: „Falls eine Macht (...) in einen Krieg verwickelt werden sollte, verpflichten sich die Hohen Theile (...) ihre guten Dienste zu leihen, damit die dieser Macht gehörigen und in der konventionellen Freihandelszone einbegriffenen Gebiete, im gemeinsamen Einverständniß dieser Macht und des anderen oder der anderen der kriegsführenden Theile, für die Dauer des Krieges den Gesetzen der Neutralität unterstellt und so betrachtet werden, als ob sie einem nichtkriegsführenden Staate angehörten.“ Die kriegführenden Staaten – 1914 wären es Deutschland, Großbritannien und Belgien gewesen – hätten darauf verzichten müssen, ihre Feindseligkeiten auf die zu neutralem Gebiet erklärten Kolonien zwischen Rhodesien und Äthiopien auszudehnen oder diese als Basis für kriegerische Operationen zu nutzen.

In Großbritannien war man sich zu Kriegsbeginn uneins, welche Aufmerksamkeit man den deutschen Kolonien schenken sollte. Alle Kolonialmächte hatten nur verhältnismäßig wenig Militär in Ostafrika stationiert, und dieses sollte vor allem die Herrschaft nach innen sichern, nicht aber für ein offensives Vorgehen gegen andere Kolonialmächte genutzt werden.

Während der britische Generalstab ein weltweites militärisches Vorgehen gegen Deutschland favorisierte, wollte Kriegsminister Herbert Kitchener für einen Feldzug gegen Deutsch-Ostafrika weder Truppen noch Material zur Verfügung stellen, da aus seiner Sicht beides auf dem europäischen Kontinent dringender benötigt werde. Überdies befürchteten die Verantwortlichen in London, daß in Britisch-Ostafrika innere Unruhen ausbrechen könnten.

Auch sorgten sich Briten wie Deutsche, daß das „Prestige der weißen Rasse“ bedroht werde, wenn sich die Europäer gegenseitig bekämpften und dabei noch bewaffnete afrikanische Hilfstruppen einsetzten. Die Briten beschlossen schließlich, die deutschen Funkstationen außer Betrieb zu setzen und die Hafenstädte so zu „neutralisieren“, daß sie von deutschen Kreuzern nicht mehr angelaufen werden durften. Damit beschränkten sie sich auf die ebenfalls in der Kongoakte definierten „Marineangelegenheiten“ und ließen offen, ob sie Deutsch-Ostafrika für neutral hielten.

Selbst ein großer Teil der 4.100 Deutsch-Ostafrikaner verspürte wenig Lust auf ein militärisches Kräftemessen mit der britischen Großmacht. Die Eisenbahnverbindung Daressalam-Tanganjikasee war gerade fertiggestellt, man fühlte sich am Beginn einer neuen wirtschaftlichen Entwicklungsperiode. Noch in seinen Erinnerungen beklagt sich Lettow-Vorbeck darüber, daß die „Kolonialdeutschen“ lediglich um die innere Sicherheit besorgt waren und auf die „Neutralisierung“ der Kolonie hofften.

Von der drohenden Kriegsgefahr erfuhr Gouverneur Schnee am Morgen des 1. August 1914. Die Funkstation in Daressalam hatte in der Nacht entsprechende Funksprüche von deutschen Schiffen aufgefangen. Schnee berief sofort einen Kriegsrat ein und erklärte den Kriegszustand. Während Lettow-Vorbeck offensiv gegen Britisch-Ostafrika vorgehen wollte, versuchte Schnee weiterhin, die Kolonie aus dem Krieg herauszuhalten. Deswegen bestimmte er, daß die vollziehende Gewalt nicht an den Militärbefehlshaber übergehe, sondern bei den Zivilbeamten verbleibe. Die Küstenorte wurden im Falle eines Auftauchens gegnerischer Kriegsschiffe zu „offenen Städten“ erklärt.

Die Zivilverwaltung erhielt die Vollmacht, mit feindlichen Parlamentären zu verhandeln. Sollten Kriegsschiffe in die Häfen einlaufen, sei kein Widerstand zu leisten. Die eigenen Truppen seien abzuziehen. Im Gegenzug sollten sich die Briten verpflichten, offene Städte nicht zu beschießen und bewaffnete Polizeikontingente zum Schutz der europäischen Bevölkerung zu akzeptieren.

Großbritannien brach den Vertrag von 1885

Entsprechend diesen Vorgaben wurde gehandelt, als am 8. August 1914 die britischen Kreuzer „Astrea“ und „Pegasus“ vor Daressalam auftauchten und die Funkstation beschossen. Die Verwaltung hißte die weiße Fahne, die Schutztruppe zerstörte den Funkturm und zog ab. Nach dieser Kapitulation zogen sich die britischen Schiffe zurück. „Offene Küstenplätze nicht verteidigt, Besetzung nicht erfolgt“, kabelte der Gouverneur nach Berlin. Neun Tage später lief ein ähnliches Prozedere in Tanga ab.

Hier erklärte aber ein Vertreter der Schutztruppe, daß man sich an den Vertrag nicht halten werde. Das wurde am 23. August deutlich, als der Kreuzer „Pegasus“ vor Bagamoyo erschien und die Zivilverwaltung verhandeln wollte. Der Kommandeur der 17. Feldkompanie übernahm daraufhin die vollziehende Gewalt und ließ Parlamentäre abweisen. Die „Pegasus“ beschoß daraufhin die Stadt und dampfte von dannen.

Ende August hofften noch immer viele Deutsch-Ostafrikaner, daß sich ein neutraler Status durchsetzen ließe. Sie verlangten vom Gouverneur, „alle Bestrebungen auf den Schutz der wirtschaftlichen Werte der Kolonie auszurichten“, schreibt Bührer. Insbesondere die Handelsgesellschaften und Einwohner der Küstenstädte plädierten dafür, während die deutschen Farmer Gefallen an der offensiveren Vorgehensweise Lettow-Vorbecks fanden und sich sogar ein Freikorps unter dem Plantagenbesitzer und Reserveoffizier Tom von Prince bildete, das „gegen geringen Widerstand“ das englische Taveta östlich des Kilimandscharo einnahm.

Darauf reagierten die Briten mit einer Großoffensive. Sie zogen 12.000 Soldaten zusammen, die in einer Zangenbewegung die deutschen Kräfte im Norden Deutsch-Ostafrikas zerschlagen sollten. Mit Widerstand wurde kaum gerechnet, zumal die Deutschen von der Gültigkeit der für die Küstenstädte Daressalam und Tanga beschlossenen „Neutralisierung“ ausgingen. Daß die britische Admiralität Ende August die Unterzeichnung der Verträge verweigert hatte, sollte dem Gegner erst kurz vor der geplanten Landung mitgeteilt werden. Am 2. November war das der Fall. Die Briten unter dem Kommando General Arthur Aitkens forderten die bedingungslose Übergabe von Tanga. Als diese verweigert wurde, landeten die Briten, drangen sogar in die Stadt ein, wurden aber schließlich zurückgeschlagen.

Die britische Niederlage bei Tanga bescherte dem Schutzgebiet eine trügerische Ruhe bis zur alliierten Großoffensive 1916. Der hatte Lettow-Vorbeck nichts mehr entgegenzusetzen, auch wenn er seinen Kampf bis zum Waffenstillstand in Europa 1918 fortsetzte. Ein neutrales Deutsch-Ostafrika blieb eine Illusion.

Fotos: Deutsche Truppen erobern die britische Stellung Majoreni am Kilimandscharo, September 1914: Deutscher Widerstand nicht eingeplant, Deutsch-Ostafrika, Askari mit Kriegsflagge 1916: Lettows-Vorbecks Kampf mit seinen afrikanischen Hilfstruppen gegen die Briten dauerte bis 1918 an

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