© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

Abschottung statt lebendiger Diskussion
Journalismus im Umbruch: Die gedruckte Presse verliert ihre Hoheit über die Meinungsbildung
Thorsten Hinz

Die Einschläge erfolgen immer schneller und treffen ins Herz der deutschen Presselandschaft. Binnen Wochenfrist haben Focus und Stern ihre Chefredakteure ausgetauscht. Der Branchenriese Gruner & Jahr streicht 400 Stellen. Spiegel-Chefredakteur Wolfgang Büchner hat unter den Redakteuren einen Aufruhr ausgelöst, weil er mit einer Blattreform den Auflagen- und Bedeutungsschwund des Magazins stoppen will. (JF 36/14) Die FAZ raunt: „Die Zukunft des Journalismus entscheidet sich hier und jetzt.“ Die Kleinanzeigen, die neuerdings ihren Titelkopf flankieren, sind Zeichen der Abdankung. Die Königin der deutschen Tagespresse ist unter die Animiermädchen gefallen. Einzig die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten können sich, durch staatliche Zwangsabgaben abgesichert, beruhigt zurücklehnen.

Sie feierten sich als Sturmgeschütze oder Säulen der Demokratie, doch sie waren links, halblinks oder mittig positionierte Zitadellen der Macht. Von hier wurden Stimmungen angeheizt, Themen gesetzt oder unterdrückt, Personen, Skandale und Parteien hoch- oder niederschrieben. Noch vor wenigen Jahren erschienen sie als uneinnehmbare Bastionen. Nun bersten die Mauern, und es lugen verängstigte Belegschaften hervor, die mit dem Hilferuf „Qualitätsjournalismus!“ Bestandsschutz einfordern. Die Arroganz der Macht ist in den Modus der Weinerlichkeit eingetreten, was den Prestige- und Autoritätsverlust noch vergrößert.

Es findet ein umfassender Strukturwandel der Öffentlichkeit statt, in dessen Verlauf die gedruckte Presse das Informationsmonopol und die Hoheit über die Meinungsbildung verloren hat. Das wirft die Frage auf, wohin die Macht, die ihr entgleitet, nun abwandert. Optimisten meinen, zum Leser und im weiteren Sinne zum Demos. Nach den halbgaren Theorien von der verflüssigten Demokratie („liquid democracy“) führt der technische Fortschritt zu einem permanenten Abstimmungsverfahren und zur Interaktion zwischen Lesern und Zeitungsredaktionen. Andere glauben, daß unter den ökonomischen Umständen die Drohung mit dem Liebes-(Abo-)Entzug dazu führt, daß die Journalisten ihre Haltung überdenken. Wieder andere meinen, daß der Diskurs sich jetzt in zeitgemäßere Foren verlagere.

Die Reaktionen der Zeitungen sind widersprüchlich. Einerseits verflachen sie und werden boulevardesk. Das ist in gewissem Maß verständlich, denn es bedient die Erwartungshaltung, die Lesegewohnheiten und das gesunkene Bildungsniveau nachwachsender Leserschichten.

Doch es gibt nach wie vor Leser, die sich wegen zunehmender Inkompetenz, Simplifizierungen, Realitätsferne und ideologischer Aufladung von den Zeitungen abwenden. Diese Tendenz läßt sich aktuell an der Berichterstattung zum Rußland-Ukraine-Konflikt, an der Haltung zum Islam, zum Euro, zur EU, zur Einwanderung usw. ablesen. Also müßten die großen Blätter versuchen, durch analytische Tiefenschärfe, die Vielfalt der Blickwinkel und Dialogfähigkeit Vertrauen zurückzugewinnen.

Restriktiver Umgang mit Leserkommentaren

Doch das Gegenteil geschieht. Die als Agenturmeldungen getarnten, volkspädagogisch intendierten Einheitsartikel häufen sich. Zwei vergleichsweise harmlose Beispiele: Periodisch wird die Sprachforschung zum sogenannten „Kiezdeutsch“ referiert, obwohl der Gehalt kein wissenschaftlicher, sondern ein politischer ist. Die Unfähigkeit immer größerer Zuwanderergruppen, sich auf deutsch oder in einer anderen Sprache korrekt auszudrücken, wird als geistig-kultureller Zugewinn verkauft.

Ähnlich die jüngst verbreitete Meldung, daß der Anteil der Existenzgründer unter Zuwanderern höher sei als unter autochthonen Einwohnern. Keine einzige Zeitung erfüllte den redaktionellen Mindeststandard und fragte nach, wie viele der Unternehmen tatsächlich Gewinn erwirtschaften oder ergänzende Sozialleistungen erhalten, welche Qualifikationen und wieviel Kapital die Neugründer mitbringen usw. Was sie verbreiteten, war reine Propaganda.

Die Berichte und Kommentare zum Ukraine-Konflikt sind fast durchweg hetzerisch. Die Zeitungen degenerieren zu lupenreinen Verlautbarungsorganen der US-geführten Nato. Auffällig gerade bei konfliktträchtigen Themen ist der restriktive Umgang mit den Leserkommentaren in den Netz-Auftritten. Er richtet sich nicht nur gegen Trolle oder notorische Querulanten, sondern auch gegen kompetente Foristen, die Fehlinformationen, Lücken oder tendenziöse Darstellungen nachweisen. Zu einigen Themenbereichen wird die Kommentarfunktion sofort wieder geschlossen oder gar nicht erst eröffnet. Die Abschottung gegen jedweden Widerspruch scheint wichtiger zu sein als die lebendige Diskussion, die eine sinnvolle und informative Ergänzung zu den Artikeln und Kommentaren darstellt und deren Niveau sie nicht selten übersteigt. Gerade die Kommentarstränge sorgen für neue und wiederholte Zugriffe. Der Verzicht darauf erscheint zunächst merkwürdig.

Für den kritischen Leser-Kommentator bedeutet das zweifellos einen Verlust. Er kann sich alternativen Diskussionsforen zuwenden, doch keines hat eine ähnlich große Reichweite und Resonanz wie die Online-Auftritte der altbekannten Presseorgane.

Aktuelle Untersuchungen haben zudem ergeben, daß der Mechanismus der Schweigespirale – die Scheu, Meinungen und Ansichten zu äußern, die von der veröffentlichten Mehrheitsmeinung abweichen – in den sozialen Netzwerken fortwirkt. Die Internetforen eignen sich zur Zeit für alternative Informationsdienste, aber weniger zur Planung und Steuerung politischer Aktivitäten, die aus der virtuellen in die Realwelt führen. Selbst die Piratenpartei ist damit schnell gescheitert. Man kann über Twitter oder Facebook zwar zu kollektiven Besäufnissen einladen oder zu spontanen Flashmobs, doch die Wirkung auf politische Prozesse und Entscheidungen ist begrenzt.

Zudem sind Twitter, Amazon, Facebook, Google und Co. keine interessenfreien Vermittler von Informationen und Daten, sondern selbst Träger von Machtinteressen, die sie durch Abschaltungen, Sperrungen, Manipulationen jederzeit vertreten. Die Nachricht, daß sie mit den US-Geheimdiensten kooperieren, ist keine wirkliche Überraschung. Es liegt nahe, daß ihr Einsatz zur Überwachung und Bewußtseinssteuerung immer weiter perfektioniert wird. Ein Großteil der Macht, die die Presse abgeben mußte, ist in ihre Hände übergegangen.

Feudales Macht- und Selbstverständnis

Der australische Zukunftsforscher Ross Dawson hat die sukzessive Abschaffung der Zeitungen in den nächsten 25 Jahren prognostiziert. In den USA soll 2017 Schluß sein, in Deutschland 2030. Weil das Internet auf absehbare Zeit keinen vollwertigen Ersatz bietet, können die Verteidiger der gedruckten Medien vorbringen, daß der Strukturwandel der Öffentlichkeit zu keinem Strukturzerfall führen dürfe. Natürlich haben sie ihre Hintergedanken. Ein hoher ARD-Funktionär rechtfertigte die GEZ-Gebühren als „Demokratieabgabe“ und sprach ihnen damit die Funktion zu, die im Mittelalter der Kirchenzehnt innehatte. Nur ist die Demokratie weder ein Gott noch eine politische Realität. Hier drückt sich ein feudales Macht- und Selbstverständnis aus.

Auch die großen Zeitungen haben darin ihren Platz, und zwar als machtnahe Verkündigungsorgane. Entsprechende Vorstöße aus der Politik gibt es bereits. Ihre künftige Finanzierung könnte durch GEZ-Gebühren oder durch schwer durchschaubare Stiftungen erfolgen. Bismarck hatte das beschlagnahmte Vermögen der Welfen-Dynastie genutzt, um einen „Reptilienfonds“ zu bilden, mit dessen Zinsen er ausgewählte Presseorgane bestach. Gleiches wäre heute aus EU-, Nato- und transatlantisch gespeisten Quellen denkbar. Die tendenziöse und leserabgewandte Informationspolitik der wankenden Zeitungsriesen könnte ein Hinweis sein, daß sie genau darauf spekulieren.

Zur Magazin-Krise Artikel Seite 17

Foto: Zeitungsdruck: Die Arroganz der Macht ist in den Modus der Weinerlichkeit eingetreten, was den Prestige- und Autoritätsverlust noch vergrößert

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