© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

Um 5.30 Uhr war Arbeitsbeginn
Zu Besuch in der „Perle des Zschopautals“: Das Zuchthaus Waldheim damals und heute
Jörg-Bernhard Bilke

Als die Ausfahrt Hainichen/Waldheim/Mittweida kommt, beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Mittweida ist der Geburtsort meines im vergangenen Jahr verstorbenen Freundes Erich Loest (1926–2013), und im Zuchthaus Waldheim habe ich, als Student aus Mainz, die Jahre 1962/64 verbracht, bevor ich am 25. August 1964 freigekauft wurde.

Aus Coburg kommend, bin ich bis zu dieser Ausfahrt schon seit drei Stunden auf der Autobahn unterwegs. Bei Hohenstein-Ernstthal muß ich an den dort als armer Leute Kind geborenen Volksschriftsteller Karl May denken, der ebenfalls im Zuchthaus Waldheim eingesessen hat, vier Jahre seines Lebens, von 1870 bis 1874.

Die weitere Strecke führt noch 16 Kilometer über die Dörfer, deren Namen ich von Gesprächen im Zuchthaus kenne, in denen ich aber nie gewesen bin. Von Süden kommend erreiche ich eine Anhöhe und sehe hinunter in dieses liebliche Tal, wo die 1198 erstmals erwähnte Kleinstadt an der Zschopau liegt, einem Nebenfluß der Freiberger Mulde. An dieser Stelle muß im Sommer 1850 das Pferdegespann angehalten haben, das von der Festung Königstein im Elbsandsteingebirge abgefahren war, um den wegen „Hochverrats“ zum Tode verurteilten Dresdner Musikdirektor August Röckel (1814–1876) im Zuchthaus abzuliefern. In seinen Erinnerungen „Sachsens Erhebung und das Zuchthaus zu Waldheim“ (1863) schrieb der politische Häftling, der einer der führenden Männer des Dresdner Mai-Aufstandes von 1849 gegen König Friedrich August gewesen war und der nun von zwei Unteroffizieren und einem Gerichtsdiener durch die Nacht nach Waldheim gefahren wurde: „Wir hatten endlich einen Hügel erstiegen, vor dem sich ein wunderbar schönes Flußtal ausbreitete, in dessen Mitte, von Höhen umschlossen, ein Städtchen lag… Fünf Minuten später hielt der Wagen vor dem Tor des Zuchthauses. Der Gerichtsdiener schellte; das Tor wurde geöffnet und schloß sich wieder hinter mir – auf mehr denn elf Jahre.“

Wer als Besucher heute von der Anhöhe hinab fährt in die Stadt, hat das ehemalige Zuchthaus vor sich. Die Anstaltskirche, von der „Volkspolizei“ seit 1969 als Turnhalle benutzt, und die 1719 gepflanzte Linde liegen im Blickfeld. Unter diesem Baum habe ich am 21. August 1964 gestanden, als wir freigekauften Häftlinge von der DDR-Staatssicherheit nach Berlin-Hohenschönhausen überführt wurden. Jetzt aber, ein halbes Jahrhundert später, klingle ich an der Pforte, werde eingelassen und freundlich begrüßt und dann zwei Stunden durch die Anstalt geführt, die mir heute, mit meinen Erfahrungen im „sozialistischen Strafvollzug“, wie ein „Luxushotel“ vorkommt.

Vor dem Frühstück mußte gekübelt werden

Vor fünfzig Jahren wurden wir täglich um 4 Uhr von einer schrillen Klingel geweckt, um 5.30 Uhr war Arbeitsbeginn. Bevor das Frühstück eingenommen wurde, mußte „gekübelt“ werden, denn es gab weder eine Toilette mit Wasserspülung noch überhaupt fließendes Wasser. Um 5.15 Uhr traten wir vor der „Bremen“ an, wie das Neue Zellenhaus (1886 errichtet) hieß, und wurden noch einmal durchgezählt. Gearbeitet wurde bis 15.30 Uhr, dann folgten Waschen, Umkleiden, Freistunde: Wir marschierten in Fünferreihen bei striktem Redeverbot über den Zuchthaushof.

Wenn wir um 15.30 Uhr auf Zelle kamen, war die Kaltverpflegung schon ausgegeben, und die SED-Zeitung Neues Deutschland lag zur politischen Weiterbildung vor der Zellentür. Es gab drei Stunden „Feierabend“, man konnte lesen, miteinander reden, durchs Gitterfenster schauen, ab 19 Uhr war, auch im Sommer, Nachtruhe. So ging das jahraus und jahrein. Wenn ich aus meinem Zellenfenster sah, blickte ich auf einen Turm mit der Wetterfahne; sie trug die Jahreszahl 1779. Da war Goethe, der Waldheim 1790 und 1813 besuchte, 30 Jahre alt und das Zuchthaus schon 63.

Heute dagegen hat jedes Bundesland seine eigene Strafvollzugsordnung, die den Gefangenen Freiheiten zugesteht, von denen wir im SED-Staat nur träumen konnten. In der Einzelzelle, die für uns Besucher in der „Bremen“ aufgeschlossen wurde, gibt es Radio und Fernseher, jede Menge Bücher und Lebensmittel. Wenn der Gefangene allein sein möchte, kann er seine Zelle von innen verschließen, nur die Justizbeamten können sie dann von außen öffnen. Auf dem Flur gibt es einen Telefonapparat, von dem aus bis zu sieben Nummern, die vorher angegeben werden müssen, angewählt werden können. In einer Küche kann der Gefangene, wenn er mag, sich selbst Mahlzeiten zubereiten oder Kuchen backen. Es ist ihm erlaubt, seine Zivilkleidung zu tragen, und auch die Besuchszeit ist viel großzügiger geregelt als zu unserer Zeit. Wir damals im DDR-Zuchthaus sollten mit allen Mitteln „umerzogen“ werden!

In der Einzelzelle gibt es Radio, Fernseher, Bücher

Während wir vor fünfzig Jahren 1.700 Gefangene waren und zu viert auf einer Zelle von 9,2 Quadratmetern (das stand so an der Zellentür!) hausten, sind es jetzt nur noch 360 Gefangene, also weniger als ein Fünftel, die von 195 Bediensteten betreut werden, darunter auch zwölf Sozialpädagogen, zehn Psychologen und eine Anstaltsärztin. Die „Freistunde“ in militärischer Formation ist abgeschafft, die Gefangenen schlendern durch Grünanlagen, sitzen auf Bänken oder spielen Schach mit kindsgroßen Figuren. Es gibt auch eine Seniorenabteilung für lebenslängliche Häftlinge, die nicht mehr arbeiten können oder wollen. So ist 2013 der älteste Gefangene 85 Jahre alt geworden.

Das „Museum zur Geschichte des sächsischen Strafvollzugs“, das im Torgebäude untergebracht ist und 1997 eröffnet wurde, informiert darüber, wie human der Strafvollzug im Lauf der Geschichte geworden ist. Dabei wollte uns die DDR-„Volkspolizei“ vor einem halben Jahrhundert schon einreden, wir lebten im „humanen Strafvollzug“ des Sozialismus, auch wenn geprügelt, gehungert und harte Arreststrafen ausgesprochen wurden. Gegenüber August Röckels Erfahrungen, wie er sie in seinem Buch schildert, stimmte das vielleicht. Schließlich wurden wir nicht mehr, wie noch 1850, bei der Einlieferung „zum Willkomm ausgepeitscht“. Aber die sozialistischen Gefängniswärter verfügten über andere Methoden der „Erziehung“, und so wurden in den DDR-Zuchthäusern von Bützow-Dreibergen über Brandenburg-Görden bis Torgau und Hoheneck Jahr für Jahr Hunderte von „Staatsfeinden“ erzeugt. Und das war gut so!

Foto: Zellentrakt im Zuchthaus Waldheim (1992): Zu DDR-Zeiten vier Gefangene auf 9,2 Quadratmetern

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