© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

Knapp daneben
Gängelung im Namen der Diversität
Karl Heinzen

Wer bei Facebook ein Profil anlegt, merkt, wie wenig es über einen Menschen zu sagen gibt. Man wurde irgendwann geboren, hat irgendwo gewohnt, kann etwas über seinen Beziehungsstatus aussagen, macht eine Ausbildung oder arbeitet bereits, findet bestimmte Bücher, Filme oder Bands ganz toll und ist vielleicht auch noch über einen Sinnspruch gestolpert, den man als sein Lebensmotto ausgeben kann. Viel ist das nicht, jedenfalls nicht genug, um die Ausnahmestellung, die dem Individuum in der Werteordnung des Westens zugesprochen wird, zu rechtfertigen.

Die Unverwechselbarkeit des einzelnen stellt sich nur ein, wenn die Kombination seiner Eigenschaften und Neigungen zufälligerweise von der aller anderen Menschen abweicht.

Diese Chance wird jetzt durch neue Optionen, die Facebook bietet, erhöht. Bislang hatte man, als wäre die Zeit vor 200.000 Jahren stehengeblieben, unter „Geschlecht“ nur die Möglichkeit, sich als „männlich“ oder „weiblich“ einzustufen.

Die Fremdbestimmung ist erst dann überwunden, wenn es sieben Milliarden Geschlechter gibt.

Seit wenigen Tagen kann man auch in Deutschland unter „Benutzerdefiniert“ unter nahezu 60 weiteren Angaben auswählen. Einige von ihnen wie etwa „androgyn“, „transsexuell“, „Transvestit“ oder „Drag“ sind dank einer gewachsenen Sensibilität der Öffentlichkeit für sexuelle Diversität Gemeingut geworden. Das Gros von ihnen dürfte aber, wenn überhaupt, nur Wissenschaftlern geläufig sein. Ein Normalbürger wird, wenn er/sie/es zu einer korrekten Selbsteinschätzung gelangen will, auf die Expertise des Lesben- und Schwulenverbandes zurückgreifen müssen, der Facebook bei der Definition der neuen Optionen zur Seite stand.

Was wie ein größerer Spielraum für Individualität aussieht, entpuppt sich jedoch als subtile Gängelung. Das „Geschlecht“ ist ein soziales Konstrukt. Auch wenn man statt zwei nun 60 oder gar, wie in den USA diskutiert, 4.000 Kategorien zur Auswahl hat, unterwirft sich jeder, der die seine trifft, der Fremdbestimmung. Diese ist erst dann überwunden, wenn akzeptiert wird, daß die sieben Milliarden Menschen auf unserem Planeten auch für sieben Milliarden individuelle Geschlechter stehen.

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