© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Was geschah mit Flug MH17?
Untersuchungsbericht: Der Abschuß des malaysischen Passagierflugzeugs ist einer der traurigen Höhepunkte im Konflikt in der Ostukraine / Nun liegen erste Ermittlungsergebnisse vor / Doch es bleiben noch Fragen offen
Marc Zöllner

Als am 17. Juli dieses Jahres ein malaysisches Passagierflugzeug auf seinem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur urplötzlich von den ukrainischen Radarschirmen verschwindet, hält die Welt geschockt den Atem an. Kurz darauf die traurige Gewißheit: Die Boeing 777, Flugnummer MH17, wurde nahe der ostukrainischen, in Rebellenhand befindlichen Siedlung Hrabove entdeckt, mutmaßlich abgeschossen und noch in der Luft zerschellt. Keiner der 283 Passagiere sowie der 15 Besatzungsmitglieder überlebte.

Sieben Wochen später veröffentlichen Ermittler den ersten vorläufigen Untersuchungsbericht zum Unglück. Doch was beinhaltet diese 34 Seiten dicke Akte und welche Schlüsse dürfen aus ihr gezogen werden? Die JUNGE FREIHEIT geht den wichtigsten Fragen in einem Überblick nach.

Was genau wurde untersucht?

Aufgrund der anhaltenden Kämpfe zwischen dem ukrainischen Militär und den Separatisten konnten bislang weder alle Wrackteile noch das Gros der privaten Besitztümer der Opfer geborgen werden. Auch die Überreste von etwa 70 Passagieren werden noch immer vermißt. Zwar entsandten Australien, Malaysia und die Niederlande – also die Länder, aus denen der Großteil der Verunglückten stammte – Kriminalbeamte sowie unbewaffnete Militärpolizisten an den Unglücksort; doch in die Niederlande konnte man bislang nur wenige Kubikmeter materieller Güter zumeist privater Herkunft überführen.

Seit dem 8. August verläuft die Front in der Ukraine überdies genau entlang der Absturzstelle. Die Sicherheit der zivilen Ermittler konnte seitdem von keinem der am Konflikt teilnehmenden Akteure mehr gewährleistet werden. Die Experten stützen ihre Untersuchungen von daher auf die Auswertung von rund 20.000 am Unfallort aufgenommenen Fotos und Videos. Zudem werden rund 350 Millionen Webseiten, Twitter-, Facebook- und V-Kontakte-Accounts systematisch nach Hinweisen sowie Zeugenaussagen gescannt.

Wer hat sich an der Unter-suchung beteiligt?

Teilnahmeberechtigt waren prinzipiell sämtliche Staaten „mit evidentem Interesse“ an der Aufklärung des MH17-Unglücks. Die Internationale Zivilluftfahrtorganisation ICAO (eine Unterorganisation der Uno), welche die zivile Luftfahrt regelt, lud gemäß ihrer Satzung auch die Hersteller- und Betreiberstaaten der betroffenen Boeing mit zur Untersuchung ein. Da die Triebwerke von Rolls-Royce-Werken in Großbritannien, das Flugzeug aus den Boeing-Werken in den Vereinigten Staaten stammten, wurden beide Länder ebenso zur Beihilfe aufgefordert wie Malaysia, wo die Maschine registriert war.

Auch Deutschland entsandte zwei Spezialisten der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU), weil deutsche Staatsangehörige unter den Opfern waren. Offiziell gehören sie immer noch zum Ermittlerteam, wie ein Sprecher der in Braunschweig ansässigen Behörde auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT mitteilte. Eine eigene deutsche Ermittlung gebe es jedoch nicht, dies habe man den hier federführenden niederländischen Kollegen überlassen.

Russische Experten sind laut Reglement der ICAO nicht beteiligt, da weder Russen an Bord von MH17 waren, noch die Maschine auf russischem Territorium abstürzte oder aus Rußland stammte. Das Verkehrsministerium in Moskau bildete Ende Juli eine eigene Untersuchungskommission.

Welche Ergebnisse wurden erzielt?

Grundsätzlich gilt, daß es sich weder bei der ICAO noch beim Niederländischen Untersuchungsrat OVV um Organe zur rechtlichen Ermittlung handelt. „Der einzige Zweck dieser Untersuchung ist die Verhinderung gleichartiger Unfälle“, leiten beide Kommissionen ihren Zwischenbericht demzufolge ein. „Es ist nicht ihre Absicht, irgendeiner Partei Schuld oder Verantwortung zuzuschreiben.“ Dies entspricht den Standards des sogenannten Chicagoer Abkommens, mit dem ein internationales Luftfahrtrecht auf völkerrechtlicher Basis geschaffen wurde. Im Anhang Nummer 13 der ICAO ist diese Beschränkung der Ermittlungen auf die Unfallursache genau festgelegt. „Dies alles dient dazu, einen Absturz desselben Luftfahrzeugtyps aus denselben Gründen künftig zu verhindern. So ist das übliche Prozedere, egal ob ein Ultraleichtflugzeug oder eine Passagiermaschine betroffen sind“, bestätigte der BFU-Sprecher der JF.

Die Ermittler konzentrierten sich lediglich auf die technischen Fragen. Da forensische Untersuchungen aufgrund der prekären Sicherheitslage am Unfallort unmöglich waren, wurden insbesondere die Fotos des Cockpits eingehend examiniert. Die Ermittler kamen zum vorläufigen Schluß, daß mehrere „hochenergetische Objekte“ das Cockpit durchschlugen (kleines Bild) und am Rumpf, in welchem sich der Tank befindet, wieder aus der Boeing austraten. Dadurch verlor das Flugzeug seine „strukturelle Integrität“ und brach augenblicklich auseinander.

Da in der näheren Umgebung der MH17 lediglich drei weitere Zivilflugzeuge vom russischen sowie vom ukrainischen Radar erfaßt worden sind, stützt der Bericht die These, wonach die Boeing von einer Flugabwehrrakete des Systems Buk-M1 getroffen wurde. Geschosse dieser Art besitzen einen Radar-Näherungszünder. Sie explodieren streuartig kurz vor dem Aufprall auf ihrem Ziel und haben lediglich einen geringen Zerstörungsradius von etwa 17 Metern. Für den Abschuß durch eine Rakete spricht überdies, daß sich – abgesehen vom Cockpit – insbesondere im Passagier- und Gepäckabteil nirgends Hinweise auf Einschuß- oder Austrittslöcher von Fremdteilchen finden ließen.

Warum wurde der Flug-schreiber nicht untersucht?

Im Gegensatz zu anhaltenden, insbesondere im Internet kursierenden Verschwörungstheorien wurde der Flugschreiber der MH17 bereits untersucht. Vier Tage nach dem Unglück übergaben die Rebellen, die den Flugschreiber aus dem Wrack geborgen hatten, diesen einem malaysischen Ermittler. Am 22. Juli wurde die sogenannte Black Box zuerst nach Kiew sowie anschließend in ein Labor im britischen Farnborough überführt. Sowohl beim Transport als auch bei der Auswertung waren stets offizielle Vertreter Malaysias anwesend.

Zwar waren sowohl der Sprachrecorder des Cockpits als auch der Flugdatenschreiber durch den Absturz stark beschädigt worden. Die von beiden Geräten aufgezeichneten Daten konnten von Experten jedoch komplett sowie lückenlos heruntergeladen werden. Manipulationsversuche seitens Dritter, so der Zwischenbericht des OVV, konnten nicht nachgewiesen werden. Ebenso ergaben sich aus den rund dreißig insgesamt gespeicherten Funkminuten keinerlei Anhaltspunkte auf unnatürliche Geschehnisse im Umfeld des Flugzeugs. Die Protokolle der letzten Viertelstunde wurden dem Bericht zur Beweisführung beigefügt und sind seitdem frei einsehbar. Daß die vollständigen Daten des Flugschreibers noch nicht vor Fertigstellung des offiziellen Abschlußberichts veröffentlicht wurden, entspricht den Vorschriften der ICAO.

Welche Fragen bleiben noch offen?

Wer genau die MH17 abschoß, wurde im Zwischenbericht nicht beantwortet. Sowohl die Ukraine als auch Rußland besitzen Waffensysteme vom Typ Buk-M1. Auch die Separatisten sollen über mehrere dieser Systeme verfügen. Offen bleibt überdies, vor welchem Gericht die Schuldfrage abschließend geklärt werden kann. Eine Verhandlung in Kiew, über dessen Hoheitsgebiet der Unfall sich zutrug, könnte von den prorussischen Konfliktparteien als politischer Schauprozeß gedeutet werden. Internationale Gerichtshöfe sind für solche Fragen jedoch nicht zuständig.

Einen vergleichbaren Fall hat es zuletzt 1988 gegeben, als libysche Extremisten einen Jumbo-Jet der Pan Am über dem schottischen Lockerbie explodieren ließen und dabei 270 Menschen töteten. Gegen die Verantwortlichen wurde damals zwar nach schottischem Recht verhandelt, jedoch auf neutralem Territorium im niederländischen Utrecht. Daß die Ukraine im neuesten Fall ebenfalls die Niederlande um die Leitung der Ermittlung gebeten hat, deutet auf den Versuch Kiews hin, die angespannte Situation mit Moskau juristisch zu deeskalieren.

Wie geht es nun weiter im Fall der MH17?

Für Anfang Oktober erwarten Meteorologen die ersten Schneefälle in der Donezker Region. Dadurch würden sich weitere Untersuchungen vor Ort sowie die Bergung von Wrack und Leichen bis in den kommenden Frühling verschieben. Der Abschlußbericht der OVV ist somit nicht vor dem Sommer 2015 zu erwarten. Im Zuge der Strafverfolgung stellten die in Den Haag sitzende EU-Agentur Eurojust sowie Interpol und das FBI Kriminalexperten zur Ermittlung der Täterschaft ab. Bisweilen wurden diese jedoch von den Separatisten am Betreten der Unglücksstelle gehindert.

Die malaysische Fluglinie Malaysia Airlines, die mit der MH370 sowie der MH17 binnen weniger Monate gleich zwei voll besetzte Flugzeuge verlor, soll indessen verstaatlicht werden. Ihre noch frei zirkulierenden Aktien, deren Kurse bereits nach dem Verschwinden der ersten Maschine ins Bodenlose fielen, werden seit September von einem staatlichen Investmentfonds mit einem Entschädigungsaufschlag von 12,5 Prozent abgekauft. Malaysia besaß bereits vor den beiden Katastrophen 70 Prozent der gleichnamigen Luftfahrtgesellschaft. Das restliche Drittel wird die Inselnation etwa 370 Millionen Euro kosten. Trotz massiver Umbauten am Unternehmen sollen jedoch sämtliche 19.500 Angestellten ihre Arbeitsplätze behalten.

Was an privaten Entschädigungsforderungen von den Angehörigen der Passagiere beider Flüge auf den malaysischen Staat zukommen wird, ist noch nicht abschätzbar.

 

Chronik der Beschuldigungen

17. Juli 2014

Um 16.19 Uhr Ortszeit hat Flug MH17 letzten Funkkontakt mit dem ukrainischen Kontrollturm in Dnjepropetrowsk. Sieben Sekunden später brechen die Aufzeichnungen des Flugschreibers ab, ohne daß zuvor ein Notruf abgesetzt worden wäre. Auf Anfrage der Ukrainer bestätigen russische Fluglotsen in Rostow, daß MH17 vom Radarschirm verschwunden ist.

Bereits eine Stunde später spricht Kiews Präsident Poroschenko von einem „terroristischen Akt“ der prorussischen Separatisten. Diese bestreiten den Abschuß. Die ukrainische Seite präsentiert einen Eintrag des „Verteidigungsministers“ der „Republik Donezk“, Igor Strelkow, im sozialen Netzwerk „VKontakte“. Dort habe Strelkow 17 Minuten nach dem Absturz von MH17 geschrieben (und später gelöscht): „Wir haben gerade eine An-26 abgeschossen“, ein ukrainisches Militärtransportflugzeug. Hinweise auf einen Abschuß einer ukrainischen Antonow gibt es an diesem Tag nicht.

Der ukrainische Geheimdienst will ein Telefonat zwischen zwei Rebellenführern abgehört haben, aus dem deren Urheberschaft hervorgeht. Die Echtheit der Mitschnitte ist nicht bewiesen, die Separatisten sprechen von einer Fälschung. Rußlands Präsident Putin bezichtigt Kiew der Schuld am Unglück, das nicht passiert wäre, wenn es in der Ostukraine keinen Krieg gäbe.

 

18. Juli 2014

Die Separatisten sagen der OSZE den Zugang zur Absturzstelle zu. Rettungskräfte finden einen Flugschreiber und bergen erste Leichen. Der UN-Sicherheitsrat verlangt eine umfassende, unabhängige internationale Untersuchung. Rußland weist erneut jede Beteiligung am Abschuß von sich. Australien bestellt den russischen Botschafter ein.

 

20. Juli 2014

US-Außenminister Kerry behauptet, es sei „ziemlich klar“, daß Rußland den Separatisten das beim Abschuß von MH17 verwendete Waffensystem gestellt habe.

 

21. Juli 2014

US-Präsident Obama wirft den Separatisten vor, Beweise vernichtet zu haben.

Das russische Militär behauptet, ihm lägen Radaraufnahmen eines nicht identifizierten Flugobjekts vor, das während des MH17-Absturzes in der Nähe gewesen sei. Dabei handele es sich offenbar um ein ukrainisches Kampfflugzeug vom Typ Su-25. Die Ukraine dementiert das. Der russische Generalstab ließ offen, ob der ukrainische Jet die Passagier-Boeing abgeschossen oder sich hinter ihr „versteckt“ habe, und so deren Abschuß durch eine Boden-Luft-Rakete provozierte. Der ukrainische Geheimdienst wies außerdem russische Satellitenbilder als Fälschung zurück, die angeblich ukrainische Buk-Einheiten in der Nähe der Absturzstelle zeigen sollen.

 

22. Juli 2014

Da die Europäische Union und die USA Rußland eine Mitverantwortung am Abschuß von MH17 zuweisen, erlassen sie als Sanktionen weitere Einreiseverbote und Kontensperrungen.

Der Bericht im Internet unter: www.onderzoeksraad.nl

Foto: Trümmerfeld: Wrackteile der in der Ostukraine abgestürzten malaysischen Boeing 777 am 18. Juli 2014. Die Ermittlungen konzentrierten sich zunächst auf technische Fragen

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