© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Chronische Zettelitis
Erfahrungsbericht: Wer in einem deutschen Krankenhaus behandelt wird, braucht einen langen Atem für die Bürokratie
Ronald Gläser

Das Telefon klingelt. Zum dritten Mal in den letzten zehn Minuten. Es ist ein dezentes Vibrieren und ein ganz leichter Summton. Doktor Blumberg* nimmt das Handy aus der Brusttasche und meldet sich. Dann hört er eine Weile zu. „Ja, der Patient ist bereits hier. Ich halte die Sache nicht für akut.“

Aha, es geht um mich. Doktor Blumberg hört jetzt wieder zu. Lange. Dann antwortet er: „Also wenn Sie meinen, daß das gleich zu geschehen hat, dann ist das Ihre Entscheidung.“ Kurz darauf endet das Gespräch unter Kollegen.

Ich sitze im Besprechungszimmer eines Anästhesisten der Berliner Charité. Es geht um einen Routineeingriff in Vollnarkose. Routine nicht nur für den Arzt, auch für mich. Alles schon einmal durchgemacht.

Trotzdem ist jeder Krankenhausaufenthalt immer eine neue Herausforderung. Weil der bürokratische Aufwand immer größer wird. Fast jedesmal kommt ein neues Formular, eine neue Vorschrift dazu. Diesmal diese: Doktor Blumberg erklärt mir, warum ich erst am nächsten Tag operiert werden soll. Abgesprochen war: Ich erscheine morgens nüchtern und komme noch am selben Tag unters Messer. Entlassung dann ein, zwei Tage später.

„Das geht nicht“, erklärt Herr Blumberg mit ernster Miene. Die Sofort-OP sei ein Verstoß gegen ein Gesetz, das vorschreibt, daß Patienten nach der Belehrung 24 Stunden Bedenkzeit haben müssen. Ich: „Das ist neu, oder? So eine Regel gab es früher nie.“ Blumberg: „Nein, das ist ein altes Gesetz. Das wurde nur nie angewandt. Aber jetzt haben wir Anweisung, es wieder zu befolgen.“ Wie kann ein Apparat – hier ein Krankenhaus – Gesetze mal befolgen, mal nicht? Erfreulicherweise war der Chefarzt am Telefon, der mich zwei Tage zuvor untersucht und den Termin mit mir abgesprochen hatte. Er hat nun den Narkosespezialisten angerufen, um ihm klarzumachen, daß ich doch noch am selben Tag behandelt würde.

Also gehen der Arzt und ich die Unterlagen noch einmal durch: Er erklärt, wie eine Narkose mit Intubation funktioniert. „Risiken sind Halsschmerzen. Oder daß wir einen Zahn beziehungsweise Zahnersatz beschädigen.“ In den Unterlagen steht auch, was nach der OP alles zu beachten ist. Zum Beispiel soll sofort ein Arzt informiert werden, wenn folgende Beschwerden auftreten: „Übelkeit, Erbrechen, Fieber, Schüttelfrost oder Anzeichen von Lähmungen.“

Meine Gedanken schweifen ab. Leider gibt es keine Stelle, die ich informieren kann, wenn die Bürokratie zu groß wird. Es begann schon vor dem Tag des Eingriffs: Mein Hausarzt sagte am Montag zu mir, ich solle die Experten der Uniklinik zu Rate ziehen und ließ mir von seinen Arzthelferinnen eine Überweisung ausdrucken. Das ist eines der bunten Formblätter, das einem die Mädchen wie ein Rezept über den Tresen reichen. „Danke“, sagte ich und fuhr in die Klinik. Dort angekommen, machte ich noch am selben Tag den OP-Termin aus. Mittwoch. Die behandelnde Ärztin: „Frau Dorff* ruft sie morgen an und macht einen Termin mit Ihnen aus.“

Der Unterschied zwischen Ein- und Überweisung

Gesagt, getan. Am nächsten Tag klingelt das Telefon, und Frau Dorff bittet, daß ich am Mittwoch nüchtern vorbeikomme. „Sie brauchen eine Krankenhausüberweisung“, sagt sie. „Die habe ich doch schon. Die mußte ich gestern vor der Untersuchung abgeben.“ – „Das war eine Überweisung. Jetzt brauchen wir eine Einweisung.“

Wieder was gelernt. Ich also wieder zu dem Arzt und die Sprechstundenhilfe gebeten, mir diese Einweisung auszustellen. Diese ist dann von der Krankenkasse abzustempeln, die bestätigt, daß ich bei ihr versichert bin. Also neue Rennerei für gar nichts. Und das im Onlinezeitalter.

Früher war es üblich, bei Routineangelegenheiten die Kostenübernahme für einen befristeten Zeitraum im voraus erklären, beispielsweise für ein Vierteljahr. Dann wurde das geändert: Plötzlich war vor jeder einzelnen Behandlung der Stempel Pflicht. Ich aber habe Glück: Frau Dorff läßt mich wissen, daß der Stempel diesmal gar nicht erforderlich sei. Mal so, mal so.

Am Mittwoch morgen also erscheine ich um acht Uhr in der Klinik. Nehmen Sie erst mal Platz. Sie werden aufgerufen. Das Übliche. Nach ein paar Minuten holt mich ein junger Verwaltungsmitarbeiter, der sich nicht namentlich vorstellt, in sein winziges Büro, wo ich mich gegenüber dem Schreibtisch auf den einzigen freien Stuhl setze. Ich lege die Einweisung, den Personalausweis und die Karte der gesetzlichen Krankenkasse auf den Tisch. Der Mann sagt kein Wort, sondern beginnt in Windeseile eine Akte anzulegen. Zunächst ruft er mich im Computer auf und erteilt diverse Druckaufträge. Dazu nimmt er einen Papphefter mit einer Klemme in der Mitte, die so groß ist, daß sie an die 800 Blatt halten würde.

Inzwischen hat der betagte Monsterdrucker auf seinem Schreibtisch ein A4-Blatt mit unzähligen kleinen Aufklebern ausgespuckt, auf denen mein Name, mein Geschlecht und mein Geburtsdatum stehen. Und meine Nummer. Ich bin jetzt Fall 0308068276-2. Aus dem Drucker rattern immer neue Blätter, die er in einer bestimmten Reihenfolge in die Akte heftet. Und zwar mit der Präzision und dem Tempo eines Menschen, der den ganzen Tag nichts anderes macht, als diesen einen Arbeitsgang und der es obendrein sehr eilig hat. Weil er dringend auf die Toilette muß oder so. Wortlos schaue ich ihm zu. Am Ende legt er mir einige Unterlagen vor, zum Beispiel einen Fragebogen über meine Zufriedenheit als Patient oder den Hinweis, daß ich verpflichtet bin, 10 Euro pro Tag selbst zu zahlen.

Am wichtigsten aber ist der Kranken­hausvertrag. Er wird gleich dreimal ausgedruckt. Einmal für mich, einmal für das Krankenhaus und einmal für ...? Vielleicht ist die Charité so schlecht organisiert, daß öfter mal Unterlagen wegkommen, und deswegen lassen sie sich immer alles gleich doppelt geben. Der Verwaltungsmann geht mit mir das vierseitige Dokument durch. „Wenn wir Ihnen Gewebematerial entnehmen, dürfen wir das dann untersuchen?“ Was für eine Frage. Warum sollte mir Gewebematerial entnommen werden, wenn ich jetzt nein sage. Schön ist auch die Frage aus der Abteilung Datenschutz: „Dürfen die Befunde dem weiterbehandelnden Arzt zum Zwecke der Weiterbehandlung übermittelt werden?“ Äh, ja, natürlich. Privatpatienten werden übrigens aufgefordert, ihre Zustimmung zur elektronischen Übermittlung der Daten zu erklären. Das läßt vermuten, daß die Ersatzkassen das nach wie vor auf dem Papierweg machen. 20. Jahrhundert.

Krankenhäuser und Kassen verheimlichen die Zahlen

Leider hat der Krankenhausmitarbeiter beim Durchlesen der Fragen die für mich spannendste Frage wieder „vergessen“. Sie lautet: „Erklärung zur Abrechnung der Krankenhausleistung gemäß Paragraph 305 Absatz 2 Sozialgesetzbuch V – Ich wünsche über die der Krankenkasse in Rechnung gestellten Entgelte unterrichtet zu werden.“ Ich habe diesen Punkt schon vierzig- bis fünfzigmal angekreuzt, aber noch nie eine entsprechende Auflistung erhalten.

Immer wenn ich nachgefragt habe: betretenes Schweigen. Und mir ist aufgefallen, daß die Krankenhausmitarbeiter diesen Punkt vorsätzlich immer aussparen, damit ihn nur keiner ankreuzt. Der Patient, der diesen Papierwust durchgeht, achtet sowieso nicht darauf. Einmal hat eine Dame mir gegenüber eingestanden: „Wir haben Anweisung, das so zu machen. Die Krankenhausleitung hat kein Interesse daran, daß diese Informationen verbreitet werden.“ Und das ist nicht nur in der Charité so, sondern in allen Krankenhäusern, die ich auch sonst noch aufgesucht habe.

Nach ein paar Minuten sind wir fertig, und der Verwalter überreicht mir drei Akten: zwei aus Plastik, eine aus Pappe. Ein Gesamtpaket meine Krankenakte. Damit gehe ich um halb neun zurück zur Schwester in der Station. Sie schickt mich zur Ärztin. Diese untersucht mich kurz und schickt mich mit einem Zettel zum EKG in einem anderen Gebäude. Dort erhalte ich ein weiteres Blatt Papier mit meinen Werten.

Zurück auf der Station – es ist jetzt 9.30 Uhr – teilt mir die Schwester mit, daß leider immer noch kein Bett frei sei. Ich solle schon mal zur Anästhesie gehen und das folgende Formular ausfüllen. Sie reicht mir ein ausfaltbares, mehrseitiges Dokument für Doktor Kirschbaum* und erklärt mir den Weg. Dort muß ich eine Nummer ziehen und warten. Und warten.

Immerhin habe ich nach dem Ausfüllen des „Fragebogens zur Krankenvorgeschichte des Patienten“ noch Zeit, die Akten genauer zu studieren. Obenauf liegt das „stationäre Behandlungsblatt“, nicht zu verwechseln mit dem „Stationären Krankenblatt“. Dann eine OP-Checkliste (zwei Blatt), die Formulare „Präoperative Visite“ und „Anästhesiedokumentation“, bestehend aus mehreren Seiten und Durchschlägen. Dann die Formulare Anästhesieverlauf, Aufwachraumprotokoll, Dokumentation Blutprodukte, verschiedene Tabellen mit Werten und Listen – zum Beispiel mit früheren Krankenhausaufenthalten – sowie vorgefertigte Aufkleber, die Anamnese, ein handschriftlicher Zettel mit unleserlichen Aufzeichnungen, schließlich die Dokumentation des Aufklärungsgespräches. Am Ende komme ich auf 49 Blatt Papier. Als eine gute Stunde später das Betäubungsmittel in meine Vene fließt, ist mein letzter Gedanke bei den Formularen.

Unser Gesundheitswesen ist heillos durchbürokratisiert. Kein Wunder, daß immer mehr Patienten über die zu umfangreichen Dokumentationspflichten klagen. Der Arzt schaut nur noch auf den Monitor statt auf den Patienten. Nach einer Studie der Unternehmensberatung A. T. Kearney, über die das Ärzteblatt berichtete, waren im Jahr 2010 rund 23 Prozent der Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung, über vierzig Milliarden Euro, bürokratischen Abläufen geschuldet.

Bei mir ist auch diesmal alles gutgegangen. Der Eingriff war ein Erfolg. Ich bin aber sicher, er wäre es auch mit weniger Papier geworden.

* Namen geändert

Foto: Patient Gläser mit seiner Krankenakte: „Der Mann sagt kein Wort, sondern beginnt in Windeseile eine Akte anzulegen – in einem Tempo, als ob er den ganzen Tag nichts anderes macht“

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