© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Mit Gottes Hilfe gegen die Diktatur
25 Jahre Mauerfall: Eine evangelische Tagung beleuchtet den Einfl uß der Christen auf die Einheit
Henning Hoffgaard

Ein Wimmern in der Dunkelheit. „Gott hat mich verlassen“, denkt das junge Mädchen und weint hemmungslos. Um sie herum herrscht die Hölle auf Erden. Sexueller Mißbrauch, Psychoterror, Hunger. Mit 17 Jahren kommt Heidemarie Puls in den „Jugendwerkhof Torgau“. Hier kerkert die SED-Diktatur all die Kinder ein, die als „unerziehbar“ gelten. Mauern und Stacheldraht umgeben das Gelände. Es ist ein Gefängnis. Vierzig Jahre später steht Puls auf der Bühne. Ihre leise, fast zitternde Stimme dringt aus den Lautsprechern. Langsam spricht sie über ihr Martyrium. Die Mutter Alkoholikerin, der Vater ein Monster. Er vergeht sich an ihr. Immer wieder.

Von drei Pfarrern an die Stasi verraten

Nach einem Selbstmordversuch wird Puls in ein DDR-Kinderheim gebracht. Zu den Eltern will sie nicht, zur christlichen Großmutter darf sie nicht. In den staatlichen Erziehungsanstalten der DDR sollen die Kinder ganz im Geist des Regimes erzogen werden. Viele zerbrechen daran. Nach dem dritten Fluchtversuch kommt sie nach Torgau. Insgesamt gab es Dutzende dieser Anstalten. Torgau ist die Schlimmste. Knapp 60 Kinder wurden dort zeitgleich eingesperrt. Sie müssen schwerste körperliche Tätigkeiten verrichten. Erreicht auch nur einer von ihnen die Norm nicht, werden alle anderen auch bestraft. Freundschaften sind strikt verboten. Gleich an ihrem ersten Tag in Torgau wird Puls schwer verprügelt. Ihre Haare werden ihr abgeschnitten. „Die Kinder wurden ihrer Persönlichkeit beraubt“, sagt Puls. Die 200 Zuhörer im christlichen Gästezentrum Schönblick in Schwäbisch Gmünd sind sichtbar angerührt.

Viele der Kinder in Torgau werden später für die DDR-Staatssicherheit angeworben. Ihr Leiden wurde auch nach der Wiedervereinigung lange nicht anerkannt. Puls hat den unwürdigen Kampf mit der Bürokratie erleben müssen. Nach ihrer Entlassung aus dem DDR-Heimsystem arbeitet die damals 17jährige als Baufacharbeiterin, Näherin und schließlich Kindergartenhelferin. Die DDR konnte sie nicht brechen. Puls schrieb ein Buch über ihr Leiden („Schattenkinder hinter Torgauer Mauern“).

2011 wird sie Vorsitzende des Interessenverbandes „Heimerziehung in der DDR“ in Mecklenburg-Vorpommern. „Ich sehe mich nicht als Opfer, ich sehe mich als Betroffene“, sagt sie. Als sie ihrem Mann und ihrer Familie dankt, fließen Tränen. „Hören Sie auf die stummen Schreie der Kinder.“ Dann erstickt ihre Stimme. Fast jeder, der auf der von dem christlichen Gästezentrum Schönblick und der Evangelischen Nachrichtenagentur Idea organisierten Tagung „25 Jahre Friedliche Revolution“ spricht, hat eine bewegende Geschichte. Sie alle eint, daß sie Trost und Stärke in ihrem christlichen Glauben gefunden haben.

Auch der Pfarrer Matthias Storck. Sein Vater, selbst Pfarrer, verbot ihm schon als Kind den Eintritt in die Freie Deutsche Jugend. „Das DDR-System war auf Angst gebaut“, sagt er. Das Abi-tur durfte er nicht machen. Das Jahr 1976 verändert alles für ihn. Der Dissident Wolf Biermann wird ausgebürgert, und der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz verbrennt sich in Zeitz öffentlich aus Protest gegen das kommunistische Regime. 1979 wird Storck wegen angeblichen „Fluchtversuchs und Landesverrats“ verhaftet, wie er lächelnd sagt. Ausgerechnet ein befreundeter Pfarrer hatte ihn verraten.

Storck wird ins Gefängnis Hohenschönhausen gebracht und schließlich zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Nach 14 Monaten kauft ihn die Bundesrepublik frei. Nach der Wende dann der Schock. Zwei weitere Pfarrer haben über ihn an die Stasi berichtet. Der eine sprach mit ihm in Hohenschönhausen. Der andere war sein Vater. „Sie haben ihn erpreßt.“ Seine Stimme zeigt kein Anzeichen von Wut und Verbitterung. Sein Glaube an Gott war immer stärker. Ganz bewußt wurde die Veranstaltung im Westen organisiert. „Wir haben hier Nachholbedarf“, sagt Helmut Matthies. Auch 25 Jahre nach dem Fall der Mauer ist der Idea-Chefredakteur noch sichtlich ergriffen. „Vor der friedlichen Revolution habe ich die Bibel anders gelesen als heute.“ Er ist sich sicher: „Gott hat eine Diktatur zum Stürzen gebracht.“ Auf einer Leinwand laufen die Bilder von den Montagsdemonstrationen und vom 9. November 1989. „Bekommst du auch Gänsehaut?“ flüstert ein junger Mann. Sein Sitznachbar schiebt nur kurz die Ärmel hoch.

Christen machten die Revolution erst möglich

Uwe Holmer spricht vor allem über Vergebung. 1990 gewährte er dem Ehepaar Honecker Asyl in seinem Haus. Honecker befürchtete damals, er sei in Berlin nicht mehr sicher. Auch kein anderer der früheren SED-Genossen wollte ihn aufnehmen. Pfarrer Holmer dagegen schon. Über mehrere Monate erlebte er einen gebrochenen Mann.

Holmer nahm ausgerechnet denjenigen auf, der dafür verantwortlich war, daß seine Kinder kein Abitur machen durften. Er selbst wurde mehrfach mit dem Gefängnis bedroht. Warum er das getan hat? „Wer täglich unter Gottes Vergebung lebt, muß vergeben können“, sagt er milde. Während des obligatorischen Leninismus-Marxismus-Unterrichts hatten die Lehrer immer wieder gesagt: „Im Kommunismus stirbt die Kirche von ganz alleine.“ Holmer läßt sich nicht einschüchtern. Er beschließt: „Die Pforten der Hölle werden meine Gemeinde nicht überkommen.“

Über Honecker sagt er heute, er habe den Fall der Mauer nie verstanden und verkraftet. Am Ende habe er verkraften müssen, daß über ihm „noch jemand anderes ist“. Holmer blickt nach oben. Aber Holmer sagt noch etwas. Nach seinen Worten war die vierzigjährige Teilung Deutschlands kein Zufall. Sie sei eine von Gott eingesetzte Periode der Besinnung für die Deutschen nach den Verbrechen des Dritten Reichs gewesen.

Mit dieser These ist Idea-Chef Mat-thies nicht einverstanden. Einig sind sich alle Referenten, von DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld über den früheren Oberlandeskirchenrat Harald Bretschneider bis zum Evangelisten Theo Lehmann, daß die Christen und die Infrastruktur der Kirchen in der DDR die friedliche Revolution erst möglich gemacht haben. Aber eine Strafe Gottes sei die Teilung nicht gewesen, sagt Matthies. Wer ihn beobachtet, merkt, wie ernst es ihm ist: „Das kann Gott nicht gewollt haben.“ In den achtziger Jahren habe er als Journalist mit fast allen evangelischen Bischöfen gesprochen und am Ende immer nach der Wiedervereinigung gefragt. Fast alle hätten dabei geschaut, als ob er etwas unsittliches gesagt habe, betont Matthies. Viele Kirchenleute seien regelrecht aggressiv geworden.

Punkt für Punkt beschreibt er, wie sich die Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vor dem Mauerfall mehr für die Einheit Koreas als für die Deutschlands interessierte. Matthies attestiert der EKD ein gestörtes Verhältnis zu Nation und Patriotismus. „Vom deutschen Volk wird bis heute nur als Schuldgemeinschaft gesprochen.“ Als Idea im Oktober 1989 „Wiedervereinigung – was sonst?“ titelt, muß sich der heute 64jährige vom Kirchenpräsidenten der hessen-nassauischen Kirche anhören, dies sei „rechtsradikal“. Zu einer Zeit, „als Tausende DDR-Bürger über Ungarn in den Westen flohen und es in der ganzen DDR brodelte, sprachen sich führende Repräsentanten der evangelischen Kirche gegen die Wiedervereinigung aus“. Die hätten sich lieber mit dem Feminismus beschäftigt.

Matthies’ Rede ist eine scharfe Abrechnung. „Man kann sich nicht vorstellen, wie weit die Kirche von der Basis entfernt war.“ Und dann sagt er die Worte, die die EKD-Leitung noch heute schmerzen müssen: „Hätte der Herr der Geschichte auf die deutschen Kirchen-oberhäupter gehört, es hätte die Wiedervereinigung nicht gegeben.“

Foto: „Idea“-Chef Helmut Matthies: „Man kann sich nicht vorstellen, wie weit die Kirche von der Basis entfernt war“

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