© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Folgen ökonomischer Unwissenheit
Selbstverschuldete Ohnmacht
Erich Dauenhauer

Es kann kein Zweifel bestehen: Wäre die Mehrheit der deutschen Bürger, insbesondere aber der Journalisten, Richter, Parlamentarier und andere Berufsgruppen mit herausgehobener öffentlicher Verantwortung ökonomisch ausreichend gebildet, gäbe es die Euro-Krise nicht. Denn dann hätte sich Deutschland nicht auf das Währungsabenteuer eingelassen, das Europa politisch erschüttert. Aus Umfragen geht immer wieder hervor, daß nur eine Minderheit der Wähler über elementare ökonomische Kenntnisse verfügt. In der öffentlichen Wahrnehmung sieht man daher allzu vordergründig die Euro-Krise als das alleinige Ergebnis eines Fehlver-haltens von Staaten (sie verschulden sich übermäßig) und von Banken (zu viele faule Kredite, zuwenig Eigenkapital) sowie als Ergebnis spekulativen Verhaltens von Hedgefonds auf den Finanzmärkten.

Das ist allenfalls die halbe Wahrheit, denn aufgeklärte Bürger (als Wähler) hätten diese Spieler vorsorglich an die Leine der ökonomischen Vernunft gelegt, damit sie nicht nach dem Motto handeln können: Die Unwissenheit des Volkes ist unser größtes Kapital. Das öffentliche Bild läßt leicht die beiden Hauptverantwortlichen für die Verwerfungen übersehen: Die Ausgangslage für die anhaltende Schulden- und Bankenkrise ist also bei jenen politischen und exekutiv-juristischen Kräften zu verorten, die den politischen und juristischen Rahmen für das Fehlverhalten gesetzt haben. Ohne das fehlkonzipierte Vertragswerk hätte es zum Beispiel die kostspieligen Griechenlandrettungen (mit Schuldenschnitt, Milliardentransfers usw.) nicht gegeben, auch nicht die Versuchung der Regierungen, die Gesetze zu brechen. Ohne das vertragliche „Stellwerk“ könnte zudem der geldpolitische Risikospieler, die Europäische Zentralbank (EZB), nicht seine abenteuerliche Zinspolitik betreiben.

Unter dem Schutz des komplizierten Vertragswerkes, das mit höchstrichterlichem Beistand am Leben gehalten wird, hat sich ein Krisen- und Rettungsszenario entwickelt, worin politische Schuldenmacher, Finanzspekulanten, geldpolitische Spieler und EU-Zentralisten ein verwirrendes und gefährliches Treiben veranstalten, dem sich die Bürger Europas ohnmächtig ausgeliefert fühlen. Diese Ohnmacht ist allerdings weitgehend selbstverschuldet, weil mit Wahlen ausschließbar. Sie wird von den genannten Akteuren dazu benutzt, ihre Spielräume immer weiter auszudehnen.

Der Eingangsfeststellung, wonach ökonomisch ausreichend aufgeklärte Bürgermehrheiten (also Wähler) und Funktionseliten dem Eurosystem niemals zugestimmt hätten, sind zwei Klarstellungen hinzuzufügen. Erstens gleicht es einer politischen Schutzbehauptung, den Eindruck zu erwecken, das Krisenszenario wäre vor der Euro-Einführung nicht vorherzusehen gewesen. Dem stehen eindringliche Warnstimmen ökonomischer Experten (Professoren u. a.) und der Deutschen Bundesbank entgegen. Statt sie ernst zu nehmen, haben die in der Öffentlichkeit Tonangebenden sie als europafeindlich abgetan.

An einer allgemeinen ökonomischen Bildung hat die staatliche Schulpolitik wenig Interesse, sonst hätte sie längst das Fach Wirtschaft schulübergreifend eingerichtet. Und die ökonomische Aufklärungsarbeit der Medien bringt meist bloßes Funktionswissen.

Zweitens ist es nicht weniger eine politische Schutzbehauptung, vorzugeben, die Euromaterie sei für den Normalbürger zu kompliziert, als daß die Politik ihn hätte aufklären können. Es geht um Grundlagenkenntnisse, nicht um Spezialwissen. Für eine allgemeine ökonomische Aufklärung steht längst ein erprobtes didaktisches Rüstzeug bereit. Die Forschung zur ökonomischen Bildung und Erziehung hat jene Basisstrukturen allen Wirtschaftens (nennen wir sie Wirtschaftskategorien) freigelegt, auf die es beim ökonomischen Grundverständnis ankommt: neben Effektenüberlagerung, Risiko, Wettbewerb, Arbeitsteilung sind es vier Dutzend weitere ökonomische Universalien.

Ein Verständnisniveau auf dieser Ebene genügt, um sich als Sparer, Verbraucher und politischer Wirtschaftsbürger ein zuverlässiges Urteil beispielsweise über den Mindestlohn, die Auswirkungen der Nullzinspolitik der EZB und die Euro-Rettungsschirme zu bilden. Doch an einer allgemeinen ökonomischen Bildung hat die staatliche Schulpolitik erkennbar wenig Interesse, sonst hätte sie längst das Fach Wirtschaft schulübergreifend eingerichtet. Und was die ökonomische Aufklärungsarbeit in den Medien betrifft, so bewegt sie sich meist auf der Ebene bloßen Funktionswissens (über Preis- und Zinssatzvergleiche etwa), anstatt den Blick auf ökonomische Grundstrukturen zu richten. Wie unbefriedigend der Zustand ist, gab vor einigen Monaten Bundespräsident Gauck auf dem Deutschen Bankentag in Berlin zu Protokoll: „Es würde uns guttun, wenn solche Fragen (zur Ökonomie) nicht allein von Fachpolitikern und Experten diskutiert würden, sondern stärker als bisher auch von Bürgern und Medien.“ Das traf voll ins Schwarze. Denn: „Zum informierten Bürger gehört doch eigentlich eine ökonomische Grundbildung.“

Dem Aufklärungsnotstand kann selbst bei schwierigen Sachverhalten abgeholfen werden. Dazu ein erstes Beispiel. Mit dem Fehlen der Wechselkurse innerhalb der Euroländer entfällt eines der schärfsten Disziplinierungsmittel insbesondere für Staaten, die gegenüber ausufernden Haushaltsschulden und Lohn- sowie Preissteigerungen wenig sensibel reagieren. Wechselkurse zeigen wie Fieberthermometer den Zustand einer Volkswirtschaft an. Es ist wie bei Privatpersonen: Wer auf Dauer mehr verbraucht und anschafft, als er selber erwirtschaftet, gerät in eine Schuldenfalle und verspielt seine Bonität.

Ein Land mit eigener Währung muß seine Importe letztlich mit den Erlösen aus Exporten, Tourismuseinnahmen usw. bezahlen können. Verschuldet es sich im Ausland, zahlt es dafür einen Preis (Zins), welcher steigt, je schlechter seine Bonität wird (die Zinshöhe spiegelt das Ausfallrisiko). Im Wechselkurs zwischen der eigenen und fremden Währung ist die ökonomische Lage erkennbar. Lebt ein Land ständig über seine Verhältnisse, kommt es bei Importabhängigkeit zum Devisenmangel und zu Verschuldung mit immer höheren Kreditzinsen.

Ohne auf das komplexe Wirkungsnetz eingehen zu müssen, wird sofort einsichtig: Wechselkurs und Kreditzins erweisen sich als Disziplinierungsmittel, von dem ein Spardruck und ein Zwang zu Reformen und Produktivitätssteigerungen ausgeht, um im Länderwettbewerb bestehen zu können. Unter Verhältnissen einer Gemeinschaftswährung entfällt der Wechselkurs als Warnzeichen komplett, aber auch der Kreditzins verliert weitgehend seine Dirigierfunktion. Das erklärt das zweite Beispiel.

Zinsen zählen zum Kernmechanismus der Marktwirtschaft. Sie belohnen das Sparen (den Konsumverzicht) und beeinflussen die Kreditaufnahme. Betriebe zum Beispiel nehmen nur dann Kredite auf, wenn deren Preis (der Zins) niedriger ist als der Gewinn aus der kreditfinanzierten Investition, was wiederum von der Produktivität abhängt. Im Gebiet einer Einheitswährung kann es nur einen Einheitszins für alle Länder geben, ob wirtschaftlich starke oder schwache.

Besonders die persönliche Schadenserfahrung kann zur ökonomischen Bildung motivieren, sofern bei der Aufklärung die Lage nicht als unabänderliches Schicksal hingestellt wird. Denn die eingetretenen Verhältnisse sind Menschenwerk.

Im Süden der Eurozone schwächelt bekanntlich die Produktivität. Um die dortigen Unternehmen dennoch zum Investieren zu ermuntern, hält die EZB den Preis für die Kredite niedrig (nach der neuerlichen Leitzinssenkung zu Monatsbeginn beinah null) und entlastet zugleich die Zinslast aus den Staatsschulden für alle Länder. Da der niedrige Einheitszins aber auch für starke Volkswirtschaften gilt, steigen deren Gewinne, was die Wettbewerbsfähigkeit der Süd-länder weiter mindert. Um diesem Auszehrungsprozeß entgegenzuwirken, setzt man riesige Transferströme (ESM usw.) nach Süden in Bewegung, und die EZB greift in die Trickkiste: Kauf von maroden griechischen und anderen Staatsanleihen, Herabstufung der Bonität bei der Kreditsicherung. Das sogenannte Verwerfungsnetz der Niedrigzinspolitik (mit einer Blasenbildung bei Immobilien) kann hier nur angedeutet werden. Doch auch aus diesem komplexen Netz läßt sich die ökonomische Grundstruktur herauspräparieren, welche die Schadensbilanz offenlegt, darunter die Enteignung von Sparern. Ein drittes Beispiel erläutert den Zusammenhang.

Zum Recht auf Eigentum (Artikel 14,1 Grundgesetz) gehört, so der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof, die rechtlich gesicherte Möglichkeit (nicht die Garantie), Erträge zu erwirtschaften, sei es als Produktionsgewinn oder als Zinsertrag aus Sparbeträgen. Die Verletzung dieses Grundrechts durch die Niedrigzinspolitik der EZB gefährdet gegenwärtig die Altersversorgung von Millionen Bürgern und verhindert rentable Geldanlagen auf den Kapitalmärkten. Fast jeder Bürger ist von dieser aufgezwungenen Anlagenot betroffen, auch Kinder und Jugendliche mit ihren Sparbüchern. Man muß nicht die Zins- und Zinseszinsformel kennen, um die schleichende Enteignung zu verstehen. Ein Blick auf die Bankauszüge genügt.

Besonders diese persönliche Schadenserfahrung kann zur ökonomischen Bildung motivieren, sofern bei der Aufklärung die Lage nicht als unabänderliches Schicksal hingestellt wird. Denn die eingetretenen Verhältnisse sind Menschenwerk und unterliegen in Demokratien dem Urteil der Wähler. Dieses Urteilen setzt ein Mindestmaß an ökonomischem Sachverstand voraus, der direktdemokratisch entschieden stärker herausgefordert und gefördert wird als in repräsentativen Demokratien, weil nämlich an der Basis kontrovers gestritten und damit automatisch wählerintern aufgeklärt wird. In repräsentativen Demokratien hingegen entscheiden „ferne“ Parlamentarier, deren ökonomischer Sachverstand in aller Regel überschätzt wird. Wie sonst hätten sie dem Euro-Abenteuer zustimmen können? Direktdemokratisch wäre dieser Irrweg niemals beschritten worden. Daran zeigt sich, wie eng ökonomische und politische Bildung verzahnt sind.

 

Prof. Dr. Erich Dauenhauer, Jahrgang 1935, war von 1971 bis 2003 Lehrstuhl­inhaber für Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspädagogik an der Universität in Landau/Pfalz. Er lehrt dort weiterhin als Emeritus im Rahmen des Studium generale. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Rechtfertigungsdruck, dem sich die Marktwirtschaft ausgesetzt sieht („Freiheit ist das beste Mittel“, JF 6/14).

Foto: Ob Arbeiter, Angestellte, Beamte oder Ruheständler – alle sind Teilnehmer am Wirtschaftsleben und von wirtschaftlichen Weichenstellungen der Politik betroffen: „Zum informierten Bürger gehört doch eigentlich eine ökonomische Grundbildung“ (Joachim Gauck)

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