© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Zu den Akten legen
Das Septemberprogramm 1914: Deutsche Weltmachtpläne oder erster Entwurf der Europäischen Union?
Helmut Roewer

In den ersten Septembertagen des Jahres 1914 brachte der Doktor der Philosophie Kurt Riezler ein kurzes Exposé zu Papier. Aktenvermerk, so würde man es heute nennen. Ob Riezler dieses Schriftstück aus eigenem Antrieb anfertigte oder auf Weisung seines unmittelbaren Vorgesetzten, ist heute nicht mehr sicher rekonstruierbar. Dieser Vorgesetzte war der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Ort der Handlung war ein verlassenes Palais in Luxemburg, wo sich das deutsche Hauptquartier befand. Riezler notierte ins Tagebuch, es besitze die „Elegance alter Tanten“.

Weder Bethmann noch Riezler konnten ahnen, daß der namenlose Aktenvermerk noch einmal Weltkarriere machen sollte. Künftige Generationen nannten das Luxemburger Exposé „Septemberprogramm“. Noch heute dient das Septemberprogramm als scheinbar unwiderlegliches Beweismittel für Deutschlands Weltmachtambitionen jener Tage, und kaum ein Historiker, der über Kaiserreich oder den Ersten Weltkrieg schreibt, mag auf seine Erwähnung verzichten. Auch das Deutsche Historische Museum hat das Septemberprogramm ins Internet gestellt.

Zunächst sei jedoch ein kurzer Blick auf den Anlaß des Papiers geworfen. In jenen ersten Septembertagen 1914 stürmten die deutschen Armeen durch Belgien und Nordfrankreich, um in einem scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug die französische Hauptmacht in einer gigantischen Kesselschlacht zu vernichten. Damit verfolgte die deutsche Militärführung den vor Jahren entwickelten Schlieffenplan, der vorsah, mit dieser gewagten Zangenoperation erst Frankreich binnen einiger Wochen entscheidend zu schlagen, um sodann die Kräfte gegen die im Osten „anrollende russische Dampfwalze“ freizubekommen.

In diesen ersten Septembertagen sah es so aus, als könnte dieser Plan gelingen. Frankreich schwebte über dem Abgrund. Im deutschen Hauptquartier machte man sich mit dem Gedanken vertraut, in kürzester Frist Kapitulations- und wohl auch Friedensverhandlungen führen zu können. Was also sollte man vom besiegten Gegner im Westen fordern? Diese Frage stellte sich Bethmann. Sein persönlicher Referent Riezler brachte die Antwort zu Papier. So kam es zu dem, was später einmal Septemberprogramm hieß.

Konzeptionen galten vor allem für den Westen

Frankreich sollte nach diesem Konzept im Falle des Sieges Belfort und den Westabhang der Vogesen abgenommen bekommen (der Vogesenkamm und der Osthang gehörten damals ohnedies zum Deutschen Reich), und es sollte zu einem Handelsvertrag mit Deutschland genötigt werden, der deutschen Unternehmern den französischen Markt öffnen würde. Belgien sollte die vor vier Wochen so überaus lästig gewesene Grenzfestung Lüttich abtreten und Luxemburg Teilstaat des Deutschen Reiches werden.

Das neutrale Holland gedachte man nicht anzutasten, sondern ihm eine wirtschaftliche Annäherung an das Deutsche Reich durch Rückabtretung der gesamten Scheldemündung einschließlich der jetzt noch belgischen, in Flandern gelegenen Hafenstadt Antwerpen schmackhaft zu machen. Diese Provinzen hatte Holland 1830 an das unter englischer Aufsicht entstehende Belgien abtreten müssen. Das war in Holland noch längst nicht vergessen.

Es fällt auf, daß in dem Papier von Rußland keine Rede ist. Das ist aus zwei Gründen folgerichtig: Mit Rußland gab es zum einen kaum grundlegende politische Differenzen. Zum anderen stand Rußland gar nicht auf der Tagesordnung, denn die Entscheidung im Osten mußte erst noch gesucht werden. Dessen waren sich die Verantwortlichen trotz der in Ostpreußen gewonnenen Abwehrschlachten gegen die Russen bewußt.

Das Kernstück des Forderungskatalogs war hingegen nicht territorialer Art, sondern ein Stück Wirtschaftspolitik. Es sollte ein „mitteleuropäischer Wirtschaftsverband“ gegründet werden, und zwar durch gemeinsame Zollabmachungen, an denen Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn und Polen, eventuell auch Italien, Norwegen und Schweden zu beteiligen seien. In diesen Kernsätzen wird der Schwerpunkt der Bethmannschen Politik sichtbar. Der Reichskanzler strebte nicht Landnahme, sondern durch Aufhebung bzw. Harmonisierung der Zollbestimmungen ein wirtschaftlich zusammenwachsendes Europa an.

Der Schwerpunkt des Septemberprogramms betraf in der Tat auch Staaten, die gar nicht Kriegspartei waren, wie Dänemark, Holland, Italien, Schweden und Norwegen, oder die gar nicht existierten, wie Polen. Später deuteten Historiker diese Pläne als deutsche „Weltmachtambitionen“. Tatsächlich weichen diese Überlegungen in der groben Ausrichtung nur geringfügig von späteren, in den frühen fünfziger Jahren als der Stein des Weisen gefeierten Entwürfen einer Europäischen Wirtschaftsunion ab.

Stattdessen verlor Deutschland vier Jahre später den Krieg „gegen eine Welt von Feinden“, wie es Kaiser Wilhelm II. am 6. August 1914 beschrieb. Was diese als Friedensbedingungen in Versailles diktierten, war aus anderem Holze geschnitzt als das Septemberprogramm. Hier ging es nicht um das Abtreten einer Grenzfestung, sondern um die Auslöschung von Deutschland als mitteleuropäischer Zentralmacht und um die Ruinierung seiner Wirtschaftskraft. Millionen von Deutschen fanden sich wegen der territorialen Abtretungen als Minderheit in fremden Staaten wieder.

Und die Weltmachtambitionen? Das sind Mosaiksteine aus dem Bastelkasten der alliierten Propaganda. Daß das Septemberprogramm hier überhaupt Eingang fand, verdankt es einem kapitalen Fehler des Reichskanzlers. Als sich wenige Tage nach der Entstehung des Aktenvermerks unmißverständlich zeigte, daß der Schlieffenplan schmählich gescheitert war, gab es für ihn nur eine Verwendung: „ad acta“ – zu den Akten. Doch stattdessen verwendete der Kanzler das Aufgeschriebene noch einmal.

Für die Fritz-Fischer-Schule ein „Schlüsseldokument“

Bethmann dachte, er handelte klug, als er das Papier in der innenpolitischen Debatte nach 1914 den alldeutschen Utopisten mit Großraumvisionen als realpolitisches Maximalkonzept darlegte. Doch damit erweckte der Reichskanzler für einige tatsächlich den Eindruck, daß das Exposé ein außenpolitisches Programm sei. Nicht nur, daß die Alldeutschen den Kanzler als „schlapp“ beschimpften, sondern schlimmer war, daß sich nun auch die alliierte Kriegspropaganda der Sache bemächtigte, sie ihres Inhalts entkleidete und die Nachricht von den amtlichen deutschen Weltmachtplänen veröffentlichte.

Noch während des Krieges hat Bethmann seinen Lapsus in einem Brief an den Freund Wolfgang von Oettingen bitter bereut. Da konnte er freilich nicht ahnen, daß eine spätere Historikerschule um Fritz Fischer nach 1950 aus diesem „Schlüsseldokument für das Verständnis der deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg“ (Imanuel Geiss) ein ganzes geschichtliches Weltbild spinnen würde.

Foto: Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg (l.) 1916 im Gespräch mit Außenamt-Staatssekretär Gottlieb von Jagow (M.) und Vizekanzler Karl Helfferich: Frühe Ideen eines von Deutschland dominierten europäischen Wirtschaftsverbandes

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