© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Studieren ohne das Spielerische
Kompetenz statt Bildung: Der Bologna-Prozeß und der Rückfall in vormoderne Zeiten
Karlheinz Weissmann

Nur einen kleinen Teil seiner Werke widmete Wilhelm von Humboldt (1767–1835) pädagogischen Themen. Trotzdem denkt jeder, der überhaupt etwas mit dem Namen des preußischen Adligen verbindet, nicht an den Staatsmann und Diplomaten, der auf dem Wiener Kongreß glänzte, nicht an den Sprachphilosophen, Ästhetiker und Altertumsforscher, sondern umstandslos an den Universitätsreformer und Bildungspolitiker.

Auch die geistesgeschichtliche Forschung hat ausgerechnet dem Feld, auf dem Humboldt publizistisch zu Lebzeiten kaum hervortrat, ihre größte Aufmerksamkeit geschenkt. Mit mäßigem Erfolg, da der zentrale Begriff, der Maßstab seiner Entwürfe und Denkschriften zur Reform der hohen Schulen Preußens und zur Gründung der Berliner Universität, „Bildung“ nämlich, von ihm nirgendwo theoretisch expliziert und systematisiert worden ist.

Das eröffnete Interpreten viel Spielraum, so daß bis heute munter darüber gestritten werden darf, was Humboldt unter Bildung verstand. Spötter neigen gar zur Annahme, daß ihm an einer theoretischen Fixierung deshalb nichts lag, weil er, um zu wissen, was ein gebildeter Mensch sei, nur in den Spiegel schauen mußte.

Tatsächlich scheint Humboldts Bildungsidee ein „gewisses Etwas“ innezuwohnen, das schwer zu rationalisieren und zu definieren ist. Gleichwohl enthielt ihr nur vage bestimmbarer Kern das Erfolgsrezept zum Aufbau einer Bildungslandschaft, die über 150 Jahre den Kulturstaat und die weltweit führende Wissenschaftsnation Deutschland fundierte. Erst im Zeichen der Zerstörung dieses Fundaments durch die Bologna-Reform, über die selbst EU-Kultusbürokraten witzeln, es handle sich um einen raffinierten Plan des US- und des chinesischen Geheimdienstes, um Europas Hochschulen auf Drittwelt-Niveau zu drücken, hat ex negativo schärfer konturiert, was Humboldt mit Bildung meinte.

Und zwar exakt das Gegenteil von jener „Kompetenz“, die die Bologna-Strategen als Bildung verkaufen. Kompetenz, so führt Andreas Dörpinghaus aus (Forschung & Lehre, 7/2014), der in Würzburg Systematische Erziehungswissenschaft lehrt, verdiene nur den Namen „Post-Bildung“. Denn vermittelt werde in den neustrukturierten Studiengängen des Bologna-Modells ausschließlich spezielles Fachwissen, um den von außen, von Politik und Wirtschaft diktierten Anforderungen an Beschäftigungsfähigkeit („Employability“) und effizienter Verwertbarkeit des Erlernten zu genügen.

Hochschulen seien daher Instrumente geworden zur „Dienstbarmachung von Menschen als volkswirtschaftlich ertragreiches Humankapital“. Studieren reduziere sich zunehmend aufs Lernen, da für den Kompetenzerwerb Training und Übung genügten, deren Erfolg von einer modernen „Kontroll-Technologie“, die Macht der Verwaltung expandieren lasse, überwacht würden.

Mit dem Effekt, daß sich aktuell ein statisches Wissenschaftssystem entwickle, das Wissen weitgehend wieder als lediglich „kanonisch“ reproduziere. Ein klarer Rückfall in vormoderne Zeiten, als die Promotionsvorschriften der theologisch dominierten Universitäten es dem akademischen Nachwuchs ausdrücklich untersagten, etwas Neues zu produzieren. Zugleich werde die Einheit von Forschung und Lehre preisgegeben, denn weder haben fortgeschrittene Studenten Zeit, erste Erfahrungen in der Forschung zu sammeln, noch bewältigen Dozenten auf Dauer die Doppelbelastung, wenn man ihnen erhöhte Verpflichtungen als „Trainer“ ihrer punktesammelnden Klientel auferlegt. Zudem verenge sich unter dem Diktat der Nützlichkeit Forschung sukzessive zur Auftragsforschung, so daß auch hier „Freiheit, Kreativität und das Spielerische“ verlorengingen.

Eben dieses „Spielerische“ ist für Dörpinghaus das rätselhafte Ungefähre im Bildungsbegriff Humboldts. Die Vermittlung von kanonischem, modulisierbarem Wissen hatte der Freund Goethes und Schillers als Kontrastprogramm für seine eigenen Konzeptionen vor Augen, da Napoleons Bildungsreformer gerade Frankreichs Universitäten als Fachhochschulen reorganisierten, als der 1809 frisch berufene Leiter des preußischen Kultus- und Unterrichtswesens begann, den „Mythos Humboldt“ zu stiften.

So antwortete er mit seiner Reformarbeit auf das französische Modell, das die Verschulung des Studiums etablierte, die mit „Bologna“ nun in Deutschland einzieht. Dessen auf „nützliche Teilkompetenzen“ abgestellte Studienpläne, so kritisiert Dörpinghaus, geben keinen Raum, um vielseitige Interessen für orientierende Fragen zu wecken, auf die Menschen gemeinsame Antworten als Sinnentwürfe suchen. Die Punktejagd im Bestreben, sich an Standards anzupassen, kenne auch keine Neugier, verkümmere folglich die Freiheit des Lernens und Urteilens, die Fähigkeit aus der Distanz sehen zu lernen und setze an die Stelle mündiger Lebensführung die „Akkreditierung des Lebens“. Triumphiert Kompetenz über Bildung, drohe eine gesamtgesellschaftlich verheerende, „radikale Linearität im verschulten Gleichschritt der Kohorten“, die heute schon, was bei Dörpinghaus unerwähnt bleibt, den idealen Nährboden für den omnipräsenten Konformismus und den totalitären Strukturwandel der Öffentlichkeit schafft.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen