© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/14 / 26. September 2014

Mit dem Röntgenblick durch das moderne Sein
Zum 125. Geburtstag gewinnt der Philosoph und frühe Globalisierungskritiker Martin Heidegger an Statur
Wolfgang Müller

Nach der im letzten Frühjahr erfolgten Veröffentlichung eines Teils seiner „Gedankentagebücher“, der „Schwarzen Hefte“ (JF 18/14), schien Martin Heidegger (1889–1976) rechtzeitig vor seinem 125. Geburtstag am 26. September definitiv ausgestoßen aus den Reihen der epochalen Denker des 20. Jahrhunderts. Hatte doch ihr historisch so unbedarfter wie profilneurotischer Herausgeber Peter Trawny, der an der zur Universität mutierten Gesamthochschule Wuppertal einem „Heidegger-Archiv“ vorsteht, in einer geschickt gefingerten Pressekampagne suggeriert, aufgrund dieser Niederschriften aus den 1930er/1940er Jahren müsse das bald mit 100 Bänden einschüchternde Gesamtwerk des zu Weltruhm gelangten Meßkirchner Sohnes kleiner Leute als „in die Philosophie transformierter Antisemitismus“, als „seinsgeschichtlicher Antisemitismus“ verstanden werden. Denn den Subtext, so krakeelt Gernegroß Trawny, der fortan „Sein und Zeit“ ebenso entschlüssele wie die frühen Marburger Vorlesungen oder die späten Lobreden auf die „Gelassenheit“, den finde man in einem Groschenheft namens „Die Verschwörung der Weisen von Zion“.

Es spiegelt den traurigen Verfall tief verankerten historischen Bewußtseins nicht allein im Feuilleton, sondern auch im akademischen Discount-Milieu wider, wenn der Blödsinn von der „antisemitisch kontaminierten“ Seinsphilosophie Heideggers inzwischen als diskutabel gilt. Thomas Thiel meinte gar in einem Blatt, das vorgibt, kluge Köpfe ködern zu können, Trawnys hysterische Spekulationen hätten einen „aktuellen Kurssturz der Aktie Heidegger“ ausgelöst (FAZ vom 10. September 2014).

Sowohl Repräsentant wie Opponent des Zeitgeistes

Das exakte Gegenteil dürfte eintreten. Denn langfristig wird der inszenierte „Skandal“ um die „Schwarzen Hefte“ den ohnehin von der Forschung heute kaum mehr auszumessenden Resonanzraum der Heideggerschen Philosophie beträchtlich dehnen. Lassen doch seine zur Selbstverständigung fixierten Kladden-„Überlegungen“ den Freiburger NS-Rektor von 1933/34 nicht länger als esoterischen Beschwörer eines rätselhaft-unfaßbaren, überzeitlichen „Seins“ erscheinen, sondern in bisher unbekannter Engagiertheit als Repräsentanten und – wesentlich entschiedener – Opponenten des Zeitgeistes.

Die Privatnotizen dieses Professors, dessen offenbar unstillbarer Nachrichtenhunger schwer zum Bild des weltabgewandten Klausners auf der Todtnauberger Hütte passen will, räsonieren unablässig über Nationalsozialismus, Bolschewismus, Amerikanismus, Demokratie, Liberalismus, über Ökonomie und Technik, Kino- und Sportbegeisterung, kurz: über die menschliche Existenz im Zeitalter der Moderne. Was politische Philosophie charakterisiert, die „wechselseitige Durchdringung des Prinzipiellen und Aktuellen“ (Hermann Lübbe), gewinnt darum auf jeder Seite Gestalt. Hier versperrt kein, von Theodor W. Adorno zu Recht kritisierter, von Günter Grass karikierter „Jargon der Eigentlichkeit“, kein abschreckender Begriffspanzer, der mit „Fundamentalontologie“ und „Daseinsanalytik“ dräut, den Einstieg. Die „Schwarzen Hefte“ sind daher Heideg-gers schönstes Geburtstagsgeschenk an sich selbst, sie sind die beste „Einführung“ in seinen geistigen Kosmos – exklusiv aus des Meisters erster Hand.

Gegen „Hexensabbat“ des westlichen Universalismus

In dem von Dieter Thomä zusammengestellten, knapp 600seitigen „Heidegger-Handbuch“ (Stuttgart 2003), dem bis heute für Anfänger wie Fortgeschrittene unverzichtbaren Kompendium, scheint keine Ecke des Werkes, das sich im provinziellen Freiburg vor und während des Ersten Weltkrieges zwischen Neuscholastik, Neukantianismus und der Phänomenologie Edmund Husserls zu entwickeln beginnt, unbeleuchtet zu bleiben.

Auf die Frage nach dem Stellenwert der aneignenden Lektüre der Vorsokratiker, Platons und Aristoteles‘ für „Sein und Zeit“ (1927), antworten Thomäs emsige Beiträger genauso profund wie sie zumeist knapp und konzis über Heideggers Verständnis von Wahrheit, Hermeneutik, Metaphysik, Welt, Tod, über die Auseinandersetzung mit Kant und den Klassikern des Deutschen Idealismus, über die Deutungsangebote zu Hölderlin und Nietzsche orientieren. Ebenso lexikalisch-gründlich wirken die 200 Seiten zu „Kontext und Rezeption“, die das zeitgenössische Beziehungsgeflecht aufzeigen, den mächtigen, auch internationalen Einfluß des Denkers bis nach Ostasien verfolgend und nicht einmal „Heidegger in der Satire“ vergessend.

Trotzdem klafft eine peinliche Lücke, die jetzt gegen die Intentionen ihres Editors Trawny von den „Schwarzen Heften“ geschlossen wird. In Thomäs Handbuch bleibt nämlich der Zeit- und Kulturkritiker genauso blaß wie der politische Kopf. Der selbstredend ausführlichste Artikel, Thomäs Betrachtungen über Heidegger und den Nationalsozialismus, mit branchenüblich raunendem Untertitel „In der Dunkelkammer des Seins“, ist dafür schwerlich Ersatz. Auch nicht die matten Erläuterungen zur Technikkritik, zur Marx-Affinität des Lehrers von Herbert Marcuse oder zum Vergleich mit französischen Theoretikern und „Verwindern“ der Postmoderne.

Erst mit den Kladden-Reflexionen aus der totalitären Ära kräftigen sich die bislang zu blassen Konturen des fundamentalistischen Modernekritikers und scharfsichtigen Vordenkers des Anti-Globalismus. Prägt Heidegger doch auf diesem Feld inzwischen nachhaltig selbst Mode-Philosophen wie den Deutsch-Koreaner Byung-Chul Han, obwohl die ihre Abhängigkeit gern verschweigen und lieber korrekt Walter Benjamin und Michel Foucault zitieren, wenn sie vor der heraufziehenden „Kontrollgesellschaft“ des dank „Big Data“ psychotechnisch perfektionierten neoliberalen Regimes warnen.

Dichte und Kontinuität seiner zeitkritischen Reflexionen erschließen aber nicht nur unbekannte Zugänge zu Heidegger und versprechen eine im 21. Jahrhundert ungebrochene Virulenz seiner Weltsicht, sondern sie führen zugleich zu einer Einbuße an Originalität. Die allerdings erfreulich korreliert mit der Erkenntnis, wie fest verwurzelt Heidegger im Herzen des ideenreichsten und unbeugsamsten, des deutschen Widerstandszentrums gegen den „Hexensabbat“ des westlichen Universalismus war.

Denn das ganze Arsenal der Argumente, aus dem die „Gedankentagebücher“ saugen, war durch die wilhelminische Kulturkritik bereits gut bestückt, und es war dem Schüler und Studenten zudem früh in seiner vom „Antimodernismus“ erfüllten katholisch-alemannischen Herkunftswelt präsent. Als alternativloses Verhängnis, das alles Leben kommerzialisiert, das den Menschen „verdinglicht“ und „entfremdet“, als System erbarmungsloser Quantifizierung und Vernutzung, war dieses „stählerne Gehäuse“ (Max Weber) konservativen wie marxistischen Kapitalismusgegnern gleichermaßen verhaßt.

Bundesrepublik verachtetes „Gestell“ des US-Hegemons

Es ist daher kein Zufall, daß einer der vor 1914 wortgewaltigsten Ankläger neuzeitlicher „Verameisung“ des Individuums, der „Entzauberung der Welt“, der Berliner Nationalökonom Werner Sombart (1863–1941), der den Nationalsozialismus ähnlich hoffnungsfroh begrüßte wie Heidegger, in einer Bekenntnisschrift über den „Deutschen Sozialismus“ (1934) abermals alle jene Topoi gegen die „händlerische Rechenhaftigkeit“ (Heidegger) der angloamerikanischen Plutokratien versammelte. Von denen machte der nach 1933 vermeintlich in der „Dunkelkammer des Seins“ hausende, somit zum Schwarzwälder Grottenolm verharmloste Philosoph dann ausgiebig Gebrauch, bei seinem Furor gegen das in die „Machenschaften“ des „Zeitalters der vollendeten Sinnlosigkeit“ abrutschende, der „Vergemeinerung des Menschen“ zwecks „Vollendung seiner Tierheit“ anheimfallende Dritte Reich.

Ob die Urteile über dessen westdeutschen Wurmfortsatz moderater ausgefallen sind, wird die Edition weiterer „Schwarzer Hefte“ erweisen. Zu erwarten ist solche Altersmilde aufgrund vieler, von Heidegger nach 1945 geäußerter Verdikte über das verachtete „Gestell“, das der US-Hegemon in Europa installiert hatte, eher nicht.

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