© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/14 / 03. Oktober 2014

Wenn der Bruder mit der Schwester
Strafrecht: Der Deutsche Ethikrat hat sich dafür ausgesprochen, das sogenannte Inzestverbot teilweise neu zu regeln
Gerhard Vierfuss

Der Deutsche Ethikrat, zentrales Beratungsgremium von Bundestag und Bundesregierung in ethischen Fragen, hat eine Stellungnahme zum strafrechtlichen Inzestverbot (Paragraph 173 Strafgesetzbuch) vorgelegt. Darin spricht er sich für eine Neuregelung aus, die die Strafbarkeit von Geschwistern nach dieser Vorschrift einerseits einschränkt, anderseits aber ausweitet.

Mit dem Inzest im Eltern-Kind-Verhältnis befaßt sich die Stellungnahme ausdrücklich nicht. Nach Paragraph 173 StGB – Beischlaf zwischen Verwandten – macht sich strafbar, wer mit einem leiblichen Abkömmling oder mit einem Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht; das gleiche gilt für leibliche Geschwister, die miteinander den Beischlaf vollziehen. Sie werden jedoch nicht bestraft, wenn sie bei der Tat noch nicht volljährig waren. Um den Straftatbestand und die Stellungnahme würdigen zu können, muß man sich zunächst über seine systematische Stellung im Strafgesetzbuch im klaren sein: Er steht nicht in dem Abschnitt, der die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung umfaßt, sondern in demjenigen mit der Überschrift „Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie“. Schutzgut ist also nicht – oder allenfalls am Rande – die sexuelle Selbstbestimmung.

Familie als alleiniges Schutzgut

Welches Rechtsgut hier geschützt werden soll und welcher Strafgrund also vorliegt, ist umstritten. In erster Linie genannt werden der Schutz der Familie und die Verhinderung der Zeugung genetisch belasteter Nachkommen.

Hierzu führt der Ethikrat aus, es sei mit der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes unvereinbar, die Erwünschtheit von Kindern nach ihrer Behinderung oder Nichtbehinderung zu bemessen. Schutzgut sei daher allein die Familie, die das ungestörte Aufwachsen von Kindern ermöglichen solle. Sexuelle Beziehungen der Eltern zu ihren Kindern oder von Geschwistern untereinander führten zu Störungen des Zusammenlebens, und zwar auch dann, wenn sie einvernehmlich erfolgten und keiner der Tatbestände zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung erfüllt sei. Durch die Überlagerung verschiedener miteinander unvereinbarer Rollen komme es zu Konflikten, die die Familie zerstören könnten.

Die Verhinderung solcher Störungen sei ein legitimes Ziel, das der Staat mit dem Mittel des Strafrechts verfolgen dürfe. Allerdings gehe die Regelung des Paragraphen 173 StGB über dieses Ziel hinaus, insofern sie auch den Beischlaf zwischen erwachsenen Geschwistern sowie zwischen Geschwistern, die nicht in einer Familie zusammenleben und von denen eines erwachsen ist, für strafbar erkläre. Die Stellungnahme empfiehlt daher, diese beiden Fälle aus der Strafbarkeit herauszunehmen. Allerdings weist die Argumentation hinsichtlich der ersten dieser Konstellationen eine Schwäche auf: Der Ethikrat räumt selbst ein, daß auch sexuelle Beziehungen erwachsener Geschwister innerhalb eines Familienverbandes eine Störung des Zusammenlebens bewirken können. Hier überwiegt jedoch nach seiner Auffassung das persönlichkeitskonstitutive Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung.

Minderheit stimmt gegen die Empfehlung

Für die nach diesem Vorschlag strafbar bleibende Konstellation zweier Geschwister, die in einer Familie leben und von denen nur eines bereits volljährig ist, empfiehlt der Ethikrat eine Ausweitung der Strafbarkeit über die Fälle des Beischlafs hinaus auf ähnlich schwerwiegende sexuelle Kontakte. In einem abweichenden Votum wendet sich eine Minderheit des Ethikrates gegen diese Empfehlungen.

Sie gibt zu bedenken, daß die Strafbarkeit des Inzests auch bei volljährigen Geschwistern eine vorwirkende Schutzwirkung für den schwächeren Partner entfalten könne, nämlich indem sie etwa dem erwachsenen Bruder die Aussicht nehme, die inzestuöse Beziehung zu seiner 16 Jahre alten Schwester werde mit Zeitablauf legal werden. Auch die Minderheit erkennt an, daß Paragraph 173 StGB manche Paare in tragische Lebenssituationen bringen könne – etwa Paare, die erst nach ihrer eigenen gemeinsamen Familiengründung erfahren, daß sie Geschwister sind. Diesen Fällen könne jedoch, so das Minderheitsvotum, „möglicherweise“ auch ohne Gesetzesänderung im Wege der Rechtsanwendung Rechnung getragen werden.

Kommentar Seite 2

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