© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/14 / 03. Oktober 2014

Mehr Fragen als Antworten
Aufklärung: Drei Bücher beleuchten aus unterschiedlichen Perspektiven die Aufarbeitung des NSU
Marcus Schmidt

Tino Brandts Meinung ist eindeutig. „Ich halte diese NSU-Mordgeschichte privat nicht für glaubhaft, und das für einen Schauprozeß“, sagte der Rechtsextremist und langjährige V-Mann in der vergangenen Woche als Zeuge im Verfahren um den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) vor dem Oberlandesgericht in München.

Die am 4. November 2011 in Eisenach aufgeflogene, mutmaßlich aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bestehende NSU-Terrorgruppe läßt die Öffentlichkeit bis heute nicht los. Noch immer versuchen sich viele ein Bild der dem Trio zugeschriebenen Mordserie an neun türkischen und griechischen Kleinunternehmern und einer Polizistin zu machen. Für manche ist es im wahrsten Sinne des Wortes unvorstellbar, wie drei Rechtsextremisten jahrelang unbemerkt im Untergrund gelebt haben und währenddessen zehn Morde und zahlreiche Banküberfälle verübt haben sollen.

Seit mehr als 140 Verhandlungstagen wird der Fall in München verhandelt. Vermutlich erst Ende kommenden Jahres wird sich zeigen, ob die von der Bundesanwaltschaft in der Anklageschrift dargelegte Deutung der Ereignisse vor Gericht Bestand haben wird – oder nicht. Doch nicht nur das Gericht bemüht sich um Aufklärung. Neben den Ermittlungen der Behörden und der Arbeit der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern hat sich in den vergangenen Jahren eine rege private „Ermittlerszene“ gebildet. Auf unzähligen Internetseiten, Blogs, aber auch in Zeitungsartikeln und Büchern werden die Erkenntnisse der Behörden zum NSU hin und her gewälzt.

Im Fokus stehen dabei unter anderem immer wieder die ominöse Rolle des Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme, der nachweislich kurz vor dem Mundlos und Böhnhardt zugeschriebenen Mord an Halit Yozgat 2006 in Kassel vor Ort war. Daneben gibt der Polizistenmord von Heilbronn an Michèle Kiesewetter nach wie vor Rätsel auf, weil er so gar nicht in das Muster der anderen Taten paßt. Auch das plötzliche Ende von Böhnhardt und Mundlos in einem Wohnmobil in Eisenach gibt reichlich Anlaß für Spekulationen. Andere wiederum stellen gleich alles in Frage: Sie glauben nicht, daß es den NSU überhaupt gegeben hat, daß Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe die ihnen zur Last gelegten Taten überhaupt begangen haben.

Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich auch drei aktuelle Bücher, die sich der Geschichte und damit der Aufklärung des NSU widmen. Das in jeder Hinsicht gewichtigste Werk ist dabei „Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU“, das der ehemalige Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust zusammen mit dem Journalisten Dirk Laabs verfaßt hat. Das Buch zeichnet detailliert den Lebensweg des mutmaßlichen Terrortrios nach und ordnet den NSU in die Geschichte des Rechtsextremismus in Deutschland ein. Im wesentlichen folgen die Autoren der Darstellung der Behörden von den drei jungen Rechtsextremisten aus Jena, die sich in der Nachwendezeit immer weiter radikalisierten, bis sie schließlich 1998 untertauchten und in den folgenden Jahren zahllose Raubüberfälle und nicht zuletzt zehn Morde begingen.

Obwohl „Heimatschutz“ damit die bisher verbreitete Geschichte des NSU nicht grundsätzlich in Frage stellt, lassen die Autoren die Unstimmigkeiten und offenen Fragen, die ihnen im Laufe ihrer umfangreichen Recherchen aufgefallen sind und die unter anderem auf den Protokollen der Untersuchungsausschüsse und ganz offensichtlich auch auf Ermittlungsakten beruhen, nicht unter den Tisch fallen. Allerdings sind diese Ungereimtheiten nie Anlaß, den Ablauf der Ereignisse gänzlich in Zweifel zu ziehen.

Ein besonderes Augenmerk haben die Autoren auf die im Sommer 2012 bekanntgewordene Vernichtung von Verfassungsschutzakten mit NSU-Bezug Ende 2011. Sie vertreten die These, daß der Verfassungsschutz die rechtsextreme Szene seit Anfang der neunziger Jahre mit dem Ziel unterwandert habe, rechten Terror zu verhindern.

Hat Temme Böhnhardt und Mundlos erschossen?

Der Staat, so Aust und Laabs, war nahe dran am NSU, ohne jedoch die Mordserie verhindert zu haben. Dies sei „einer der größten Skandale der deutschen Nachkriegsgeschichte“. Die Autoren nehmen dabei nicht für sich in Anspruch, die Geschichte des NSU zu Ende erzählt zu haben. Ihr Buch sei nicht das letzte Wort, sondern vielmehr ein Anfang.

Während Aust und Laabs mit ihrer Darstellung im wesentlichen den Ermittlungsergebnissen der Behörden folgen, zieht der von dem Journalisten und Geheimdienstexperten Andreas Förster herausgegebene Band „Geheimsache NSU“ diese bereits in seinem Untertitel in Zweifel. „Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur“, heißt es auf dem Cover und macht damit deutlich, daß die von Förster versammelten Autoren angetreten sind, die Erzählung der Behörden kräftig gegen den Strich zu bürsten. Förster ist einer der versiertesten Experten zum Thema NSU und hat mehrfach mit Artikeln zu Ungereimtheiten bei den Ermittlungen für Aufsehen gesorgt.

Zu den Autoren des Bandes gehört auch Rainer Nübel, auf den eine der spektakulärsten Meldungen nach dem Auffliegen des NSU zurückgeht. Ende 2011 berichtete der Stern über ein angebliches Observationsprotokoll des amerikanischen Militärgeheimdienstes DIA, das nahelegt, amerikanische Sicherheitsbehörden seien beim Polizistenmord von Heilbronn Zeuge gewesen. Nübel wehrt sich in einem Beitrag für den Förster-Band gegen die mittlerweile von den Behörden verbreitete Version, bei dem Protokoll handele es sich um eine Fälschung. Ausführlich geht der Sammelband daneben auf die ungeklärten Fragen des Mordes an der Polizistin Kiesewetter ein, ohne hier wie auch bei den anderen Themenfeldern eine endgültige Antwort zu geben. Doch auch Förster sieht in dem vorgelegten Buch mehr einen Zwischen- denn einen Abschlußbericht zum NSU.

Den radikalsten Ansatz der drei Bücher bietet „Das NSU-Phantom“ von Kai Voß. Der Autor zeichnet darin das Bild einer großangelegten Verschwörung und bietet am Ende seiner selbst als „private Recherche“ charakterisierten Darstellung eine alternative Erzählung der NSU-Geschichte („Wie es wirklich gewesen sein könnte“).

Voß verwirft die auch bei Aust und Laab durchscheinende These, die Behörden hätten vermutlich mehr über die Mordserie und ihre Urheber gewußt, als sie zugeben können und sie hätten deswegen die entsprechenden Akten vernichtet, als „nicht mehr glaubhaft“. Das weitgehend freihändig konstruierte Alternativszenario, das Voß seinen Lesern anbietet, ist mit „kühn“ noch äußerst wohlwollend beschrieben. Demnach ermöglichten die Behörden den jungen Rechtsextremisten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, die Voß für eine Informantin des Verfassungsschutzes hält, das Untertauchen und verhinderten mehrmals, daß die Polizei ihnen auf die Spur kam. Schließlich geraten die drei in die Fänge einer „offiziell nicht mehr existierenden ‘Stay-behind’-Einheit“ aus den Zeiten des Kalten Krieges (Stichwort: Gladio). Quasi im Nebenerwerb werden Mundlos und Böhnhardt, so Voß, „vielleicht“ zu Auftragsmördern. Auf jeden Fall überfielen sie weiter Banken und „machten häufig Urlaub“. Dafür, warum das NSU-Trio 2011 aufgeflogen ist, hat der Autor auch eine Erklärung: „Zu diesem Zeitpunkt ist die Eurokrise auf dem Höhepunkt; ein neuer Fokus könnte in dieser Situation für Ablenkung sorgen.“ Aus diesem Grund läßt Voß in seinem Alternativ-szenario den VS-Mann Andreas Temme Böhnhardt und Mundlos erschießen, und man stellt sich spätestens hier die Frage, warum ein Verlag so etwas überhaupt druckt. Mit derlei Phantasiegeschichten erweist Voß dem Bemühen, die offenen Fragen des NSU-Komplexes aufzuklären, einen Bärendienst.

Endgültig beantwortet werden die drängendsten Fragen am Ende in keinem der drei Bücher. Vor allem der Sammelband von Förster, aber auch das Werk von Voß zeigen, daß es auch nach einem Urteilsspruch in München mit dem Thema NSU nicht vorbei sein wird. Allein Zschäpe könnte viele der noch offenen Fragen beantworten. Doch sie schweigt. Zschäpe wird wissen, warum.

Stefan Aust/Dirk Laabs: Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU. Pantheon-Verlag, München 2014, gebunden, 864 Seiten, 22,99 Euro

Andreas Förster (Hrsg.): Geheimsache NSU. Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur, Klöpfer&Meyer, Tübingen 2014, gebunden, 315 Seiten, 22 Euro

Kai Voß: Das NSU Phantom. Staatliche Verstrickungen in einer Mordserie, Ares-Verlag, Graz 2014, gebunden, 286 Seiten, 19,90 Euro

Foto: In diesem Wohnmobil starben am 4. November 2011 in Eisenach Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt: Viele der offenen Fragen kann nur Beate Zschäpe beantworten

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