© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/14 / 03. Oktober 2014

Plädoyer gegen die „Verschutzung“ unserer Gesellschaft
Subtile Gängelung
Ludwig Witzani

Das Schutzangebot ist manchmal, wie es in einem Mafiaroman von Mario Puzo heißt, „ein Angebot, das man nicht ablehnen kann“. Wer seinen Wagen etwa in einem der mondänen Vororte von Kapstadt parkt, um in einem Restaurant zu Abend zu essen, wird auf Jugendliche treffen, die ihm anbieten, seinen Wagen während seiner Abwesenheit für einen Obolus zu beschützten. Wehe dem, der dieses Schutzangebot ablehnt. An diesem und vielen anderen Beispielen wird deutlich, daß oft nicht die zu Beschützenden das Ausmaß und die Modalitäten ihres Schutzbedürfnisses definieren, sondern die „Beschützer“. In dieser heterokephalen (fremdbestimmten) Schutzanmaßung steckt der mafiöse Kern der Verschutzung, die inzwischen alle Bereiche unserer Gesellschaft durchdrungen hat.

Der Schutz ist ein Grundbedürfnis des menschlichen Lebens. Die Eltern sollen ihre Kinder schützen, die Polizei schützt die Bürger, der Starke schützt den Schwachen. Dafür hat der Beschützte natürlich zu zahlen. Liebe, Verehrung, Anerkennung und Verpflichtung sind die Dankesformen für den Schutz im sozialen Nahraum. Entschädigung, Dienst, Unterwerfung, Knechtschaft, Sklaverei sind die weniger erbaulichen Kompensationen im Fernraum.

Als nach dem Untergang des Frankenreiches Europa im 9. und 10. Jahrhundert unter dem Ansturm der Normannen, Sarazenen und Ungarn zusammenzubrechen drohte, bildete sich die Schicht der „Miles“, der bewaffneten Ritter, deren Aufgabe im Bau von Befestigungen und im Schutz der bäuerlichen Bevölkerung vor den Raubzügen fremder Völker bestand. Daraufhin siedelten sich, vereinfacht dargestellt, die Menschen im Umfeld von Burgen an und entlohnten ihre Beschützer mit Nahrung und Frondiensten aller Art. Der europäische Feudalismus ist ein Kind des gesellschaftlichen Schutzbedürfnisses.

Bald verschwanden Sarazenen, Ungarn und Normannen, die Schützer und ihre Privilegien aber blieben noch fast ein ganzes Jahrtausend erhalten. Die Kirche, der andere große Schützer der feudalistischen Gesellschaftsordnung, gesellte sich hinzu: Ihr oblag der Schutz der Gläubigen vor Sünde und Verdammnis. Ritter und Priester waren die Profi-Schützer der mittelalterlichen Ordnung – aus diesen beiden Erscheinungsformen entstand der komplexe adlige und klerikale Überbau der frühneuzeitlichen Gesellschaft.

Die europäische Aufklärung ist nicht nur ein Prozeß der „Entzauberung der Welt“, sie ist auch Prozeß des Abbaus fremddefinierter Schutzanmaßungen. Ab dem frühen 19. Jahrhundert setzte sich die Überzeugung durch, daß das Individuum keinen Schutz und keine Vormundschaft mehr benötigt, weil es sich seines eigenen Verstandes bedienen kann und soll (Kant) und weil mittlerweile der Staat die innergesellschaftliche Gewalt monopolisiert hatte (Max Weber). Schutz gegen Verbrechen und Gewalt bot nun nur noch der Staat durch den Polizisten, den „Schutzmann“, der lange Zeit wie in England waffen- beziehungsweise schutzlos seinen Dienst versehen konnte.

Diese scheinbar ideale Harmonie eines selbstverantwortlichen Individuums und eines Staates, der alle primären Schutzbedürfnisse bediente, währte nur einen Wimpernschlag der Sozialgeschichte. Das Projekt, das Individuum vor möglichst vielen neuartigen Zumutungen und Risiken zu schützen, entpuppte sich als ein extrem effizientes Aufblähungsprogramm für staatliche Bürokratien. So entstand im 20. Jahrhundert der moderne Interventionsstaat, der seine Bürger mit immer neuen Wellen von Schutzangeboten und Schutzzumutungen überzog.

Das Projekt, das Individuum vor möglichst vielen neuartigen Risiken zu schützen, entpuppte sich als ein extrem effizientes Aufblähungsprogramm für staatliche Bürokratien. So entstand im 20. Jahrhundert der moderne Interventionsstaat.

In Deutschland begann diese Politik unter Bismarck, der den Staat in Gestalt der allgemein verpflichtenden Sozialversicherung zum Schutzherrn der Arbeiterschaft erheben (und damit ihrer wirklichen Interessenvertretung, der Sozialdemokratie, entfremden) wollte. Wurde der Arbeiter im deutschen Kaiserreich gegen Krankheit, Unfall und Armut im Alter geschützt, fügte die Weimarer Republik die Arbeitslosenversicherung und das Dritte Reich den Mutterschutz hinzu. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzog sich dann eine förmliche Explosion staatlicher Schutzangebote: Es entstanden Arbeitsschutz, Kinderschutz, Naturschutz, Minderheitenschutz, Bestandsschutz und viele andere Schutzzonen mehr, deren Gemeinsamkeit – bei all ihrer möglichen Berechtigung im einzelnen – in ihrer Fremdbestimmung liegt.

Was waren die Triebfedern dieser epochalen Verschutzungstendenz? Die mächtigste ideelle Triebkraft der Verschutzung war der Sieg der Menschenrechtsideologie in allen demokratischen Staatsgebilden. Ihre extensive Deutung als ein jederzeit einsatzfähiger Generator für immer neue Rechts- und Schutzansprüche entpuppte sich als ein gigantisches Arbeitsplatzbeschaffungsprogramm für den Behördenapparat. Auch in Zukunft werden staatlich alimentierte Profi-Schützer unter Rekurs auf postulierte Menschenrechte keinerlei Schwierigkeiten haben, ihre Daseinsberechtigung durch eine immer weitgehendere Interpretation ihrer Schutzaufträge nachzuweisen. Der neuzeitliche Sozialstaat speist sich – nicht nur, aber auch – aus dieser beschäftigungspolitischen Dynamik.

Aber das ist noch nicht alles. Unsere Zeit erlebt den Aufstieg einer völlig neuen Aktivistenspezies: des innerlich bewegten und hochmotivierten „Amateur-Schützers“, der es als seine moralische Pflicht ansieht, aus eigenem Antrieb heraus bestimmte Areale des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens zu Schutzzonen zu erklären. All diesen neuausgerufenen Schutzzonen ist in der Sichtweise der Amateur-Schützer gemeinsam, daß sie durch die staatlichen Profi-Schützer bisher entweder überhaupt nicht oder nur unzureichend geschützt wurden.

So propagieren nichtstaatliche Amateur-Schützer in den ihnen nahestehenden Medien immer neue und „bessere“ Standards für Schutzbedürfnisse wie Klima, Luft, Natur, Kindheit, Familie, Tiere usw., mit denen sie die behördlichen Profi-Schützer problemlos vor sich hertreiben können. (Ein besonderes Kapitel, das eine spezielle Betrachtung verdiente, bilden im internationalen Kontext die Aktivitäten der NGOs, die sogar die Bürger fremder Staaten beschützen wollen.) Staatliche Profi-Schützer eliminieren diesen Konflikt in der Regel dadurch, daß sie Amateurschützer und ihre Verbände – sofern sie sich im politischen Mainstream befinden – großzügig alimentieren. Viele Amateur-Schützer, die den Schutz der Gesellschaft vor Rechtsradikalismus ausgerufen haben, können zur Zeit aus den Mitteln der entsprechenden staatlichen Fördertöpfe ganz gut leben.

Es wäre ein interessantes Projekt, die Geburt, die Propagierung und die Durchsetzung neuer Schutzprojekte genauer herauszuarbeiten. Hier müssen einige allgemeine Hinweise genügen. Neue Schutzprojekte benötigen durchaus einen konkreten Ansatzpunkt in der Wirklichkeit (zum Beispiel Umweltverschmutzung in den siebziger Jahren), werden dann aber gegen Falsifizierungen immunisiert: Die Sommer können noch so kalt sein, am Dogma der Erd­erwärmung wird nicht gerüttelt. Ihre Stoßkraft entfalten solche Schutzprojekte vor allem durch Verängstigung. Jeder Kurzschluß in der Werkskantine eines Kernkraftwerks wird zu einem dramatischen Störfall hochstilisiert, der durch die Medien geht.

Angesichts solcher Gefahren stellt es kein Problem dar, das eigene Schutzangebot moralisch zu überhöhen. Gegner neuartiger Schutzanmaßungen dagegen werden stigmatisiert. Wer den Rechtsradikalismus für bedauerlich, nicht aber für eines der dringendsten Probleme der Innenpolitik hält, ist ein „Beschwichtiger“, schlimmstenfalls sogar ein „Sympathisant“. Wer den menschenverursachten Klimawandel ebenso wie zahlreiche Nobelpreisträger und Experten im In- und Ausland bezweifelt, ist nach Auskunft von Rajendra Pachauri, des Präsidenten des UN-Klimarates, „kriminell“. Soviel Schutz auch immer sein mag, für die Gegner fremddefinierter Schutzanmaßungen existiert kein Schutz.

Längst haben sich die gesellschaftlichen Schutzfraktionen zu Schutzkonglomeraten zusammengeschlossen. Man mag fragen: Na und? Was ist so schrecklich an dieser Zivilgesellschaft? Doch schützen die Schützer die zu Beschützenden überhaupt?

Längst haben sich die gesellschaftlichen Schutzfraktionen zu Schutzkonglomeraten zusammengeschlossen, die in ihrer Gesamtheit nichts anderes darstellen als das, was man gemeinhin als „Zivilgesellschaft“ bezeichnet. „Zivilgesellschaft“ ist die positive Etikettierung der verschutzten Gesellschaft, wobei man sich das Mitglied dieser Zivilgesellschaft idealerweise so vorstellt, daß es als Amateur-Schützer jederzeit in der Lage ist, neue Schutzzonen ausfindig zu machen – wofür es im günstigsten Fall von den staatlichen Profi-Schützern Unterstützungszahlungen erhält. Es gehört zur Tragik der Zivilgesellschaft, daß all die positiven Energien wohlmeinender Idealisten, die sich in bester altruistischer Tradition engagieren, durch das Zusammenspiel der unterschiedlichsten Verschutzungskonglomerate instrumentalisiert werden.

An dieser Stelle mag man die Frage stellen: Na und? Was ist denn so schrecklich an dieser Zivilgesellschaft? Gesetzt den Fall, die von Profi- und Amateur-Schützern gleichermaßen in die Welt gesetzten Schutzangebote würden funktionieren, würde man dann nicht vor einem Großteil der Lebens- und Gesellschaftsrisiken auf das Angenehmste behütet? Deswegen muß die Frage erlaubt sein: Schützen die Schützer die zu Beschützenden überhaupt?

Die Antwort lautet viermal nein. Erstens unterhöhlt der gesellschaftliche Amateur-Schutz das staatliche Rechtssystem. Immer dann, wenn die Intentionen der Amateur-Schützer von denen der staatlichen Profi-Schützer abweichen, ist es für die Amateur-Schützer kein Problem, geltendes Recht gewalttätig zu brechen. In diesen Zusammenhang gehören die Anschläge auf Genmaisfelder, die Behinderungen der Castor-Transporte oder Attacken auf Wissenschaftler, die unliebsame Forschungen betreiben.

Zweitens dient der „Schutz“ nicht in erster Linie dem „Beschützten“, sondern dem Schützer. Vereinfacht ausgedrückt: Die Schützer können von ihren Schutzaktivitäten gut leben, die Schutzunterworfenen zahlen die Zeche (Steuerbelastung, Strompreise etc.). Schließlich ist drittens der heterokephale Schutz merkwürdig ungleichmäßig verteilt. Einzelne Bereiche werden extrem beschützt, der Schutz anderer dagegen ist verpönt. Welche Amateur-Schützer schützen uns vor den Linksradikalen? Welche Amateur-Schützer schützen die Symbole der Kirche? Schutzlos sind auch die weit über 100.000 Kinder, die jedes Jahr abgetrieben werden. Der Schutz der öffentlichen Sicherheit liegt in einigen urbanen Problemvierteln völlig am Boden, doch die Schreckensmeldungen aus sogenannten „NoGo“-Vierteln finden eigenartigerweise keine Schutzlobby.

Viertens erweitert der fremdbestimmte „Schutz“ nicht die Freiheitsspielräume des einzelnen, sondern schränkt sie ein. Autofahrer werden gezwungen, Umweltplaketten für ihre Fahrzeuge zu erwerben, deren Nutzen allein in der Auffüllung der Stadtkassen besteht; Müll muß getrennt werden, der in vielen Gemeinden dann doch wieder auf den gleichen Müllhalden landet – von Veggie-Day, Scharia-Polizei und ähnlichem ganz zu schweigen.

Aus all diesen Belegen, die durch weitere Beispiele mühelos ergänzt werden könnten, ergibt sich, daß ein freiheitliches Leben in der Postmoderne sich auch in der Abwehr ungerechtfertigter Schutzzumutungen bewähren muß. Bei aller Unterschiedlichkeit ähnelt in dieser Hinsicht unsere gesellschaftliche Verfaßtheit den Verhältnissen vor der Französischen Revolution. Damals wie heute sahen und sehen sich die Menschen ungerechtfertigten Schutzanmaßungen gegenüber, die im Ursprung möglicherweise sinnvoll waren, in ihrer Ausweitung heute aber nichts weiter sind als Herrschaftsanmaßungen moralisch hyperaktiver Pseudoeliten.

 

Dr. Ludwig Witzani, Jahrgang 1950, ist Lehrer im höheren Schuldienst und Reisejournalist. Über ein Jahrzehnt schrieb er Reiseberichte für große Tageszeitungen und Journale wie die FAZ, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Kölner Stadt-Anzeiger, Merian und andere.

Foto: Gut gesichert: Der fremdbestimmte „Schutz“ erweitert nicht die Freiheits­spielräume des einzelnen, sondern schränkt sie ein

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