© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/14 / 03. Oktober 2014

Licht und Schatten unter Putin
Zwischen lobenswerter freier Forschung und geschichtspolitischer Renaissance der Sowjetunion: Wie Rußland auf seine Geschichte zurückblickt
Jürgen W. Schmidt

Im Juni 2014 wurde der deutsche Historiker Sebastian Stopper wegen seiner 2012 verfaßten Dissertation „Das Brjansker Gebiet unter der Besatzungsherrschaft der Wehrmacht 1941–1943“ in Rußland gerichtlich als „Extremist“ bezeichnet und der Text auf den Index gesetzt. Offenkundig schoß man hier mit Kanonen auf Spatzen, denn bis zu dieser russischen „Reklame“ kannte Stopper in Deutschland kaum jemand. Selbst seine inkriminierte, ganze 208 Seiten umfassende Dissertation lag bislang nicht gedruckt, sondern nur als „elektronische Ressource“ vor.

Trotzdem gab der Fall Stopper erneut den Kremlastrologen Gelegenheit, über die Ära Putin den Kopf zu schütteln und ein „geschichtspolitisches Rollback“ vorauszusagen. Auch wenn in Rußland manches im argen liegt, ist die russische Geschichtswissenschaft nicht so schlecht, wie dieser Fall glauben läßt. Zudem sei daran erinnert, daß selbst in Deutschland der Historiker bei manchen Themen nicht vor dem Staatsanwalt sicher ist bzw. bei abweichender Meinung im Wissenschaftsbetrieb wenigstens die Reputation und den Zugang zu Fördergeldern aufs Spiel setzt.

Historische Forschung ist lebendig und vielgestaltig

Mit der Geschichtsschreibung der Sowjetunion zu Stalins, aber auch zu Breschnews Zeiten läßt sich die Ära Putin nicht vergleichen. Weder werden im Staatsauftrag dickleibige Putin-Biographien geschrieben oder von Ghostwritern verfaßte „Gesammelte Werke W. Putins“ herausgegeben. Auch fabrizieren wie in der DDR keine staatlichen Geschichtsfabriken zwölfbändige „Geschichten des 2. Weltkriegs“, welche als amtliche Wahrheit zu gelten haben.

Die russische Geschichtsschreibung ist gegenwärtig sehr viel lebendiger und vielgestaltiger, als man in Deutschland ahnt. Sowohl beim Themen- wie beim Methodenrepertoire braucht insbesondere die jüngere Generation russischer Historiker den internationalen Vergleich nicht zu scheuen. In der eigentlich westlichen Tradition kontrafaktischer Geschichtsschreibung legte V. Schevelew sein spannendes Werk „Alles könnte anders sein – Alternativen in der Geschichte Rußlands“ (Rostow 2009) vor. Hier beleuchtet der Autor Knackpunkte russischer Geschichte wie die Christianisierung und stellt denkbare Entwicklungen dar, wäre damals etwa der Islam zum Zuge gekommen.

Spitzenleistungen vollbringen russische Historiker bei der Zerschlagung althergebrachter nationaler Geschichtsmythen. Mit der legendären „Schlacht auf dem Peipussee“ 1242 befaßte sich Aleksej Bytschkow („Die Eisschlacht und andere Mythen der russischen Geschichte“, Moskau 2008) und Jewgeni Belasch mit dem Ersten Weltkrieg („Mythen des Ersten Weltkriegs“, Moskau 2012). Gerade das faktengesättigte Buch von Belasch hätte eine Übersetzung ins Deutsche verdient.

Auf dem Feld der nationalen wie internationalen Geheimdienstgeschichte, zu Sowjetzeiten ein ausgesprochenes Tabufeld, kann die russische Geschichtsschreibung mittlerweile mit musterhaften Leistungen aufwarten. Hier ist der rührige Nikita Petrow von der Gesellschaft „Memorial“ zu nennen, dessen voluminöses Nachschlagewerk „Die sowjetischen Geheimdienstmitarbeiter in Deutschland – Der leitende Personalbestand der Staatsicherheitsorgane der UdSSR in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der DDR 1945–1954“ (Berlin 2010) glücklicherweise auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Der kenntnisreiche Leonid Mletschin ist ebenso zu erwähnen mit seiner Biographie „Juri Andropow. Die letzte Hoffnung des Regimes“ (Moskau 2008) wie Michael Boltunow („Das ‘Goldene Ohr’ des militärischen Nachrichtendienstes“, Moskau 2011) über die russische funkelektronische und Kosmosaufklärung. Selbst zur jüngsten Vergangenheit bieten mutige Geheimdiensthistoriker brisante Enthüllungen, wie Oleg Glasunow („Der georgische Nachrichtendienst – Geheimer Kampf gegen Rußland“ Moskau 2011).

Glasunow, beileibe kein Apologet russischer Regierungspolitik, beschreibt jenen den militärischen Konflikt zwischen Rußland und Georgien 2008 begleitenden Geheimdienstkrieg. Seine Schilderungen von Abhörmaßnahmen georgischer Nachrichtendienste gegen georgische Dissidenten in Berlin lassen die berechtigte Frage aufkommen, ob seinerzeit deutsche Abwehrdienste darüber tatsächlich nichts wußten oder offiziell nichts wissen durften?

Selbst um sehr „unangenehme“ Themen macht die russische Geschichtsforschung mit sorgfältigen Untersuchungen keinen Bogen mehr, egal ob es um vormalige sowjetische Generale in der Wlassow-Armee geht (Oleg Smyslow: „Judasse mit Schulterstücken“, Moskau 2010) oder russische Verbände der Waffen-SS (D. Schukow/A. Kowtun: „Die 1. Russische SS-Brigade ‘Drushina’“). Sogar zur Geschichte spezieller Wehrmachtsverbände kann man aus den Werken russischer Militärhistoriker manches lernen, wie aus dem quellengesättigten Buch der beiden Luftfahrtexperten Dmitrij Degtjew und Dmitrij Zubow über die deutsche Luftwaffenfernaufklärung („Das allessehende Auge des Führers 1941–1943“ Moskau 2013; (JF 25/13).

Der wissenschaftliche Meinungsstreit kommt in der russischen Geschichtsforschung keineswegs zu kurz, gerade auf „heißen“ Themenfeldern, während für deutsche Historiker die erste Bürgerpflicht darin besteht, keine der abgesteckten roten Linien zu überschreiten. Solche ebenso heißen wie schmerzlichen Themen sind für die Russen die Geschichte und Bewertung des Stalinismus sowie des „Großen Vaterländischen Krieges“, vor allem dessen Vorgeschichte und Anfangsperiode. Aktuell hat Alexej Isaew in seinem lesenswerten Werk „Das Geheimnis der Grenzschlachten – Was geschah tatsächlich im Juni 1941“ (Moskau 2013, JF 44/13) das Geheimnis über die sowjetischen militärischen Planungen im Jahr 1941 gelüftet. Wladimir Beschanov legte dagegen unter dem reißerischen Titel „Die Artillerie schießt auf die Eigenen … – Blinde Kriegsgötter“ (Moskau 2013) eine ungemein kritische Geschichte der sowjetischen Artillerie im Zweiten Weltkrieg vor.

Sowohl Verklärung als auch Verurteilung des Stalinismus

In veröffentlichten Erinnerungen russischer Kriegsteilnehmer werden einstige Tabuthemen wie sowjetische Kriegsverbrechen oder aber die Beteiligung der Rotarmisten bei der Plünderung, Vergewaltigung und Vertreibung der ostdeutschen Bevölkerung nicht mehr ausgespart (Prägnant hier Elektron Priklonskij: „Tagebuch eines Selbstfahrlafettenfahrers 1942–1945“, Moskau 2008, oder Wladilen Orlov: „Schicksal eines Artillerieaufklärers“, Moskau 2010).

Nach wie vor tobt in der russischen Geschichtsschreibung ein heftiger Meinungsstreit um die Rolle Stalins, vor allem weil Putin an die imperialen Traditionen Rußlands und der stalinistischen Sowjetunion anknüpft und auf einer Großmachtrolle für sein Land beharrt. Die außenpolitische Rolle Stalins wird deshalb regierungsseitig gern ins Positive verklärt, eben weil Stalin Rußland zu Weltmacht machte. Jüngstes Beispiel ist die Umbenennung der Eingreiftruppen des Innenministeriums der Russischen Föderation, die jetzt wieder den 1994 getilgten Namen des sowjetischen Tscheka-Gründers Felix Dserschinski tragen. Einen entsprechenden Erlaß unterzeichnete Präsident Wladimir Putin, wie die russische Nachrichtenagentur Itar-Tass vergangene Woche vermeldete. Aus dieser Verklärung sowjetischer Macht erklären sich auch gespenstische, „patriotisch“ gemeinte offiziöse Maskeraden in Uniformen der Roten Armee zu staatlichen Feiertagen, ebenso wie die aktuellen „Nach Berlin“-Schilder in den Autos chauvinistischer Russen.

Höchstens auf dem Feld der „Innenpolitik“ werden Stalin „Fehler“ angerechnet, während die Historiker von „Memorial“, und nicht nur diese, darauf beharren, daß es sich keineswegs um „Fehler“, sondern um riesige Verbrechen handelt. Während ältere Werke wie etwa das informative Personenlexikon „Über Stalin“ (St. Petersburg 2000) noch überwiegend stalinkritisch ausfielen, sind jüngere Publikationen weitaus stalinfreundlicher.

Wladimir Dobrow mit seiner Biographie des nach 1953 gescheiterten Stalingünstlings Ponomarenko („Der geheime Nachfolger Stalins“, Moskau 2010) und Wladimir Shuchrai („Der persönliche Geheimdienst Stalins“, Moskau 2011) zeichnen dabei das Bild eines um das russische Volk und die Zukunft der Sowjetunion ernsthaft besorgten Diktators. Eine eindeutige Apologie Stalins, fachlich allerdings auf hohem Niveau, betreibt in seinen Werken zur Stalinzeit der russische Historiker armenischer Herkunft Arsen Martirosian. Immerhin vertritt Martirosian in Rußland keine herrschende Meinung, sondern bislang Minderheitenpositionen. In Rußland herrscht geschichtspolitisch immer noch Meinungspluralismus, allerdings sind Tendenzen zu einer Stalin-Renaissance nicht zu übersehen.

Die während der neunziger Jahre markant ins Auge fallende Politik der „Rehabilitierungen“, darunter auch von ungerecht verfolgten und repressierten Deutschen, ist ausgelaufen, was seltsamerweise keinen prominenten Protest deutscher Historiker hervorrief. Vielleicht haben die zahlreichen Rehabilitierungen, darunter von hohen deutschen Militärs und vorgeblichen „Kriegsverbrechern“, auch nur störend den Eindruck konterkariert, den bundesdeutsche Geschichtspolitiker mit Ausstellungen wie der vom „Vernichtungskrieg der Wehrmacht“ dargestellt wissen wollten.

Ein fatal ins Auge fallendes Problem ist der nach der Jelzinschen „Tauwetterperiode“ mehr und mehr versperrte Zugang von ausländischen und russischen Historikern zu den wichtigen russischen Archiven, insbesondere zu den Geheimdienstarchiven, zum sogenannten „Präsidentenarchiv“ und vor allem zum Archiv des russischen Verteidigungsministeriums. Das läßt vermuten, daß hier noch so manche „Leiche“ im Keller verborgen liegt.

Ein trauriges Zeugnis jener wissenschaftsfeindlichen russischen Restriktionen ist die vierbändige, von der bilateralen „Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen“ initiierte Dokumentenpublikation „Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948“ (Berlin, 2004–2012), obwohl die Arbeit jener Kommission einst auf Regierungsebene vereinbart wurde. Entgegen internationalen Gepflogenheiten ließ man deutsche Historiker nicht in die relevanten russischen Archive. Vielmehr mußte man russische Historiker als „Sherpas“ vorschicken, und die Archivare suchten danach für jene russischen Historiker Dokumente aus, die man für geeignet (das heißt ungefährlich) hielt.

Zugang zu den Archiven wird immer schwieriger

Ebenso wissenschaftsfeindlich ist eine andere russische Archivpraxis, zu der deutsche Politiker von Kohl bis Merkel bislang dröhnend schwiegen. Ab 1945 transportierten Beutekommandos umfangreiche Archivalien- und Aktenbestände aus Deutschland ab. Bis heute ist noch immer nicht exakt bekannt, was sich überhaupt in Rußland befindet. Oftmals wissen es die Russen selbst nicht, da die Akten nach 1945 mitunter nur primitiv eingelagert und seitdem weder erfaßt noch ausgewertet wurden.

Hier liegen unverzichtbare Teile unseres nationalen Gedächtnisses, und Historiker kommen wegen russischer Restriktionen und des völligen historischen Desinteresses deutscher Politiker nicht an sie heran. Findige russische Historiker machen deshalb häufig aus der Not eine Tugend. Sie weichen auf Provinzarchive aus, wo die Restriktionen noch nicht so deftig sind und verfassen auf deren Grundlage gehaltvolle regionalhistorische Studien wie etwa die junge Historikerin Elena Zberowskaja zur brutalen Stalinschen Verbannungspraxis: „Spezialumsiedler in Sibirien in den 1940er – 1950er Jahren“ (Krasnojarsk 2010).

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