© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/14 / 03. Oktober 2014

Gegen den Wind gesegelt
Vor hundert Jahren wurde Thor Heyerdahl geboren: Seine Diffusionismus-Theorie weckte schon vor Jahrzehnten politischen Argwohn
Wolfgang Kaufmann

Der Diffusionismus gehört zu den Theoriesträngen der Sozial- und Kulturanthropologie, welche in Zeiten der politischen Korrektheit höchst verpönt sind. Denn die Annahme, daß die wichtigsten kulturellen Errungenschaften der Menschheit von einigen wenigen, besonders kreativen Völkern hervorgebracht und dann großräumig verbreitet worden seien, läßt sich problemlos als „ethnozentristisch“ beziehungsweise „rassistisch“ abqualifizieren. Das bekam auch der norwegische Zoologe, Geograph, Archäologe und Völkerkundler Thor Heyerdahl zu spüren, dessen Geburtstag sich am 6. Oktober zum 100. Male jährt.

Der Sohn eines Brauereibesitzers aus dem Walfängerstädtchen Larvik gelangte 1937 während seiner ersten Forschungsreise auf die Südsee-Insel Fatu Hiva zu der Ansicht, daß die Vorfahren der Polynesier aus Südamerika stammten. Zum Beweis dessen führte er 1947 die legendäre Fahrt mit dem Balsafloß „Kon-Tiki“ durch, die ihm unter anderem zwei Oscars für den Expeditionsfilm und den ersten von elf Ehrendoktortiteln eintrug, zu denen sich 1972 noch eine Honorarprofessur an der Universidad Nacional de México gesellte.

Allerdings blieb die Mehrzahl der Stubengelehrten skeptisch und ließ sich von der 7.000-Kilometer-Reise von Peru nach Raroia genausowenig beeindrucken wie von den nächsten beiden Unternehmungen mit den Schilfbooten „Ra I“ und Ra II“ (1969/70), mit denen Heyerdahl demonstrierte, daß die alten Ägypter über die Möglichkeit verfügten, mit Hilfe des Äquatorialstromes und des Nordostpassats nach Amerika zu gelangen. Zu brisant war die These von den hellhäutigen, bärtigen Männern aus dem Mittelmeerraum, welche ihre kulturellen Errungenschaften erst über den Atlantik und dann weiter nach Polynesien getragen hätten.

Von der Fachwelt angefeindet oder ignoriert

Da half es auch nichts, daß Heyerdahl im Verlaufe zahlloser Expeditionen, die ihn zwischen 1952 und 2002 auf die Galapagos-Inseln und die Osterinsel, nach Peru, Bolivien und Kolumbien, auf die Malediven sowie nach Teneriffa und Sizilien führten, archäologische Belege dafür fand, daß es durchaus so gewesen sein könnte: Er wurde von der Fachwelt angefeindet oder ignoriert, soweit dies bei seiner ungeheuren Popularität unter Nichtwissenschaftlern möglich war – immerhin erschien allein das Buch „Expedition Kon-Tiki“ in 67 Sprachen.

So stellte ihn der Archäologe Frank J. Frost 1982 auf eine Stufe mit dem Schweizer Alien-Forscher Erich von Däniken. Ja, am Ende fand sich sogar ein Denunziant namens Ragnar Kvam, der Heyerdahl vorwarf, mit den Nationalsozialisten kollaboriert zu haben – wobei das ganze „Beweismaterial“ aus ein paar lobenden Worten von 1938 über die „charakterfeste deutsche Rasse“ sowie sporadischen wissenschaftlichen Kontakten zu dem später als „Mitläufer“ entnazifizierten NS-Rassenforscher Hans F. K. Günther bestand. Und das kontrastiert dann auch noch mit Heyerdahls frühzeitiger Meldung zur Freien Norwegischen Luftwaffe, welche zeigt, daß er bereit gewesen war, gegen die deutschen Besatzer zu kämpfen.

Ebenso substanzlos ist der Vorwurf, der überzeugte Diffusionist habe behauptet, die indigenen Völker seien zu keinen eigenen zivilisatorischen Schöpfungen fähig. Vielmehr war es doch gerade Heyerdahl, der immer wieder auf die Leistungen der verschiedenen außereuropäischen Kulturen hinwies, zu denen nicht zuletzt gehörte, schon 5000 Jahre vor Kolumbus über die Weltmeere zu segeln: „Weil wir Europäer glauben, daß wir das Reisen erfunden haben, ignorieren wir das Naheliegende einfach. In Wirklichkeit haben wir nicht einen einzigen Kontinent entdeckt, vermutlich nicht einmal ein Inselchen. Irgend jemand war immer vor uns da ...“

Wofür Heyerdahl allerdings tatsächlich mit einiger Berechtigung kritisiert wurde, das war die im Laufe der Zeit spürbar nachlassende Fähigkeit, seine ebenso innovativen wie unkonventionellen Ideen auf einfache, packende Weise darzustellen. Dies zeigt sich besonders im Falle der letzten beiden Theorien des Norwegers, welche ebenfalls wieder eine Herausforderung des ur- und frühgeschichtlichen Mainstreams darstellten: Zum einen ging Heyerdahl davon aus, daß der nordische Hauptgott Odin ursprünglich ein real existierender König gewesen sei, welcher im ersten vorchristlichen Jahrhundert über das Gebiet am Asowschen Meer geherrscht habe, zum anderen verortete er die Urheimat der Wikinger in Gobustan. Hierbei handelt es sich um eine Bergregion unweit der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Dort wurden ab den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts an die 6.000 Felszeichnungen entdeckt, die bis zu 40.000 Jahre alt und auf einer Fläche von insgesamt 44 Quadratkilometern zu finden sind.

Verstörende Theorien bei der „Jagd nach Odin“

Einen besonderen Eindruck hinterlassen dabei die Ritzungen, die möglicherweise ganz urtümliche Schriftzeichen darstellen, sowie die rund 15.000 Jahre alten Abbildungen von schnittigen Langbooten mit einer Besatzung von etwa zwanzig Mann: deren Ähnlichkeit mit den ältesten skandinavischen Schiffszeichnungen ist wirklich frappierend. Heyerdahl interpretierte dies sowohl als Beleg für eine prähistorische Völkerwanderung der Ur-Wikinger vom Kaukasus nach Skandinavien als auch als Hinweis darauf, daß die Geschichte der Hochkulturen eben nicht im 4. Jahrtausend v. Chr. im Reich der Sumerer begann, sondern anderswo – und zudem sehr viel früher: „Die für die restliche Welt unentdeckte Geschichte und Kultur, die ich in Aserbaidschan gefunden habe, ist weit älter als die Geschichte von Mesopotamien.“

Möglicherweise waren Heyerdahls Defizite bei der Präsentation seiner Thesen in „Jagd nach Odin“ schon die ersten Vorboten des Hirntumors, der Anfang 2002 diagnostiziert wurde und den ansonsten immer noch höchst vitalen Forscher daran hinderte, sein nächstes Projekt, die Untersuchung von pyramidenähnlichen Strukturen auf Samoa, in Angriff zu nehmen. Jedenfalls verzichtete Heyerdahl aufgrund der offenkundigen Unheilbarkeit dieser Erkrankung auf eine invasive Behandlung und zog sich in sein Haus im nordwestitalienischen Dorf Colla Micheri nahe Alassio zurück. Dort starb er dann am 18. April 2002 im Alter von 87 Jahren.

Foto: „Kon-Tiki“-Expedition von 1947 über den Pazifik: Auf eine Stufe mit Erich von Däniken gestellt

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