© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/14 / 03. Oktober 2014

Durch den Tunnel 57 in die Freiheit
Anfang Oktober 1964 markierte die letzte große Tunnelfl ucht in Berlin eine Zäsur der Fluchthilfe
Matthias Bath

Eine der spektakulärsten Fluchtmöglichkeiten aus der eingemauerten DDR war die Unterquerung der Grenzsperren in Berlin durch Fluchttunnel. Vor allem in den sechziger Jahren gelangten durch 19 derartige Tunnel zwischen 250 und 300 Menschen nach West-Berlin. Die bekanntesten dieser Tunnel unterquerten die Bernauer Straße in der Berliner Innenstadt. Hier fand vor 50 Jahren, am 3. und 4. Oktober 1964, die größte Tunnelflucht statt, bei der 57 Menschen in den Westen flüchteten. Zugleich begründeten die Ereignisse um diese Tunnelflucht aber auch eine Zäsur hinsichtlich der Unterstützung der Fluchthilfe durch West-Berliner Stellen und ihrer Wahrnehmung in der öffentlichen Meinung der Bundesrepublik.

Bereits seit Sommer 1963 hatte eine studentische Fluchthelfergruppe um Wolfgang Fuchs (1939–2001) und den späteren Astronauten Reinhard Furrer (1940–1995) vom Keller des Hauses Bernauer Straße 97 aus einen Tunnel in Richtung des Hauses Strelitzer Straße 55, des ersten frei zugänglichen Hauses hinter der Mauer in Ost-Berlin, gegraben. Einige der Fluchthelfer wollten Angehörige durch den Tunnel holen, andere handelten aus Verantwortungsgefühl für die Opfer der deutschen Teilung.

Als der Tunnel in der Nacht vom 6. zum 7. Januar 1964 auf der östlichen Seite die Erdoberfläche erreichte, mußte die Gruppe feststellen, daß er auf einem Kohlenplatz hinter den Häusern der Stre­ litzer Straße endete. Es gelang lediglich, drei Flüchtlinge am späten Abend des 7. Januar durch den Tunnel zu holen, bevor dieser am 8. Januar von der östlichen Seite entdeckt und gesprengt wurde.

Bundesdeutsche Medien verurteilten die Aktion

Einige Wochen später kam Fuchs die verwegene Idee, erneut an gleicher Stelle einen Tunnel in Richtung Strelitzer Straße zu graben, und am 10. April 1964 machte sich die Gruppe um Fuchs wieder an die Arbeit. Der neue Tunnel verlief parallel zum ersten und um einiges tiefer, zwölf Meter unter der Erdoberfläche. Es dauerte nahezu ein halbes Jahr, den Tunnel durch den festen Mergelboden unter der Bernauer Straße voranzutreiben. Am 2. Oktober 1964 erreichte der Tunnel nach 145 Metern ein stillgelegtes Toilettenhäuschen auf dem Hof des Hauses Strelitzer Straße 55.

Am 3. und 4. Oktober konnten 57 Flüchtlinge, verständigt durch Kuriere, auf verschlungenen Wegen das Haus in der Strelitzer Straße erreichen. Dort wurden sie von Furrer in Empfang genommen, dem sie das Kennwort „Tokio“ nennen mußten, um von ihm an weitere Fluchthelfer auf dem Hof des Hauses weitergeleitet zu werden. Diese führten die Flüchtlinge dann zum Toilettenhäuschen und halfen ihnen dort beim Einstieg in den Tunnel.

Unter den insgesamt über 120 Fluchtkandidaten auf der Liste von Fuchs befanden sich leider auch Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. So erschienen kurz nach Mitternacht am 5. Oktober zwei Männer im Hausflur, die vorgaben noch einen dritten Flüchtling holen zu wollen. Gegen 0.30 Uhr kamen sie mit einer Gruppe bewaffneter Grenzsoldaten zurück. Die Fluchthelfer konnten sich im letzten Moment in den Tunnel retten.

Um Furrer den Rückzug zu ermöglichen und selbst an den mit Maschinenpistolen bewaffneten Soldaten vorbeizukommen, schoß der Fluchthelfer Christian Zobel, ein damals 24jähriger Medizinstudent, in dem dunklen Hof mehrfach mit einer Pistole in deren Richtung. Dabei traf er den Unteroffizier Egon Schultz, der daraufhin zu Boden stürzte. Dann hörten die Fluchthelfer einen Feuerstoß aus der Kalaschnikow eines Grenzsoldaten. In diesem Moment war aber auch schon Zobel als letzter in das Loch des Tunneleinganges gesprungen, und die Fluchthelfer krochen so schnell wie möglich zurück nach West-Berlin.

Wenige Stunden später meldeten die DDR-Medien, Schultz sei durch „Westberliner Terroristen“ kaltblütig ermordet worden. Er erhielt ein Staatsbegräbnis und avancierte postum zum Nationalhelden der DDR. Der Tod des Grenzsoldaten und der Schußwaffengebrauch seitens der Fluchthelfer überschatteten aber auch im Westen die Freude über die gelungene Massenflucht. Erstmals warfen nun auch bundesdeutsche Medien den Fluchthelfern Leichtfertigkeit, Rücksichtslosigkeit und unlautere Bereicherungsabsichten vor. Hinzu kam, daß der Berliner Senat die für Weihnachten 1964 vorgesehene 2. Passierscheinaktion nicht durch weitere derartige Einzelaktionen gefährden wollte. Schließlich wurden Zobel und einige andere der Fluchthelfer auch noch wegen unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt.

Dagegen wurden die Ermittlungen wegen des Todes von Egon Schultz in West-Berlin eingestellt, weil die DDR trotz ihrer großspurigen Propaganda zum Tode von Schultz keinerlei Beweismaterial zur Verfügung stellen wollte. Der spätere Arzt Christian Zobel lebte bis zu seinem Tode 1992 in dem Bewußtsein, einen Menschen erschossen zu haben, was ihn seelisch zerbrechen ließ.

Erst 1994 wurde bekannt, daß Egon Schultz seinerzeit zwar von einem von Zobels Schüssen getroffen, letztlich aber erst durch den folgenden Feuerstoß seines Kameraden versehentlich getötet worden war. Dies war bis zum Ende der DDR vom MfS vertuscht worden. 2004 setzten die ehemaligen Fluchthelfer Egon Schultz in der Strelitzer Straße 55 eine Gedenktafel, denn auch er sei letztlich als ein Opfer der Berliner Mauer anzusehen.

 

Dr. Matthias Bath wurde 1976 gefaßt, als er drei Menschen in den Westen bringen wollte. Dafür wurde der im Westteil Berlins geborene Bath in der DDR zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen