© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/14 / 03. Oktober 2014

Frisch gepresst

Alternativ leben. Modehistorisch betrachtet, waren die Siebziger wohl das häßlichste Jahrzehnt seit Erfindung des Bärenfells. Doch blieb die Ästhetik nicht auf Schreckliches wie Schlaghosen beschränkt. Sie durchdrang den gesamten Alltag und erstickte innerhalb eines Jahrzehnts Formgefühl wie Peinlichkeitsempfinden so gründlich, daß die Pioniere des Privatfernsehens ihr Publikum trefflich vorbereitet fanden. Auch die Politik der Ära Brandt/Schmidt stand im Schatten dieses Häßlichen. Bilder verdreckter Flüsse und von Industrieabgasen verdunkelter Horizonte gaben der sich formierenden Umweltbewegung Auftrieb. Und marode Häuser in düsteren Abriß-Quartieren gebaren die Hausbesetzerszene als Zentrum eines „alternativen“ Milieus. Da die Kommunarden, Anarchisten, Spontis und Antiautoritären in der Bonner Republik trotz all ihrer sektiererischen Narrheit einen gewaltigen Bewußtseinswandel bewirkten, dessen fatale Folgen Politik und Gesellschaft bis heute dominieren, verdienen sie durchaus jene 1.000 Seiten, die ihnen der Konstanzer Zeithistoriker Sven Rei-chardt gewidmet hat. Leider gibt sich der Autor im Banne der Lektüre von Szene-Postillen wie Bambule, Charlie Kaputt, linkeck, Der lange Marsch, Päng oder Pflasterstrand allzu oft einem zitierseligen Positivismus hin, so daß die Analyse bei dieser Reise ins Herz der Finsternis etwas zu kurz kommt. (wm)

Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Links-alternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, gebunden, 1.018 Seiten, 29 Euro

 

Bürger im Krieg. Von fünf Söhnen des 65jährigen Arztes Karl Becker sind vier eingezogen. Der erste fällt bereits Ende August 1914 in der Wallonie, wo der promovierte Jurist und Reserveoffizier mit den knapp tausend anderen Gefallenen seiner Division im Massengrab bestattet wird. Die Brüder, in der akademischen Ausbildung dem Vater nacheifernd, fristen derweil als Lazarettleiter ihren Dienst. Der Schriftwechsel aus dem ersten Jahr des „Großen Krieges“ aus dem bürgerlichen Arztmilieu eines hessischen Städtchens, den Cornelia Marel aus dem Familienarchiv surrogiert hat, eröffnet einen aufschlußreichen Einblick in eine Gesellschaftsschicht, die mit ihrem Wertesystem – vaterländisch, kaisertreu, konservativ und religiös – eine tragende Stütze des wilhelmischen Reiches darstellte. (bä)

Cornelia Marel: Gelebte Geschichte. Zeitdokumente einer Arztfamilie. Teil 1, 1914. Antiquariat Marel, Friedberg 2014, broschiert, 371 Seiten, 12,80 Euro

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