© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/14 / 03. Oktober 2014

Der Flaneur
Schönheiten im Dauergespräch
Paul Leonhard

Im wirklich allerletzten Moment erwischt der junge Mann seine Tochter noch an den Waden. Eine Sekunde später, und die Kleine hätte sich in das verlockend blinkende Wasser des Springbrunnens auf dem Boulevard gestürzt. Das Mädchen jauchzt, der Vater atmet auf. Stirnrunzelnd schaut die Mutter von ihrem Eis auf und blickt böse ihren Mann an. Ich grinse vor mich hin und vertiefe mich wieder in mein Buch.

Daß zwei Frauen neben mir Platz nehmen, stört nicht bei der Lektüre. Aber dann beginnt die eine laut zu reden. Arabische Laute, wohl artikuliert, eindringlich. Ich schaue auf. Meine Nachbarin richtet sich gerade die langen rotblonden Haare, betrachtet sich dabei immer wieder in dem spiegelnden Display ihres iPhones. Es ist ihre Freundin, die mich aus dem Buch gerissen hat. Diese telefoniert, als würde sie einen Vortrag halten. Mit den Fingern der linken Hand unterstützt sie ihre mir unverständlichen Aussagen.

Wir schauen uns erschrocken an. Sie lächelt und greift dann zu ihrem Handy.

Fünf, zehn Minuten geht das so. Gegenüber haben sich inzwischen zwei Männer hingesetzt. Asiaten. Auch sie sprechen in ihre Handys. Daneben spielt ein Schwarzafrikaner seiner Freundin ein paar Lieder auf der Gitarre vor und schaut sie dabei verliebt an. Sie streicht sich verlegen durch die grüngesträhnten Haare. Zum Glück scheint der links von mir sitzende Typ zu schlafen.

Eine aufgeschreckte Taube rauscht so dicht über meinen Kopf davon, daß meine Nachbarin und ich den Luftzug spüren und uns erschrocken anschauen. Sie lächelt. Greift dann ebenfalls zu ihrem Handy und spricht. Die beiden blassen Frauen scheinen dem Schönheitsideal zu entsprechen. Immer wieder verwandeln sich erst gleichgültige Blicke Vorbeilaufender in sehr interessierte. Ein paar spazieren schon zum zweitenmal vorbei, einige haben sich in der Nähe wie zufällig niedergelassen. Die Frauen haben es registriert, telefonieren aber unbeirrt weiter. Ich schlage mein Buch zu und stecke es ein. Zeit zu gehen. Die Erfindung der Flatrate finde ich längst nicht mehr angenehm.

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