© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Die dritte Birke
Verrat und Verskunst: Ein schillerndes Filmbild über Sascha Anderson
Sebastian Hennig

Wie ein bizarres Feiertags-Präsent kam der Dokumentarfilm von Annekatrin Hendel über den Dichter Sascha Anderson am Vorabend des Tags der Deutschen Einheit in die Kinos. Anderson war der bewegliche Angelpunkt der subversiven Künstlerszene im Berliner Prenzlauer Berg der achtziger Jahre. Die Angel schwang aber nicht nur zwischen der neugierigen West-Journaille und den geltungssüchtigen Ost-Bohemiens hin und her. Sie eröffnete daneben auch der DDR-Staatsgewalt einen umfassenden Einblick in vermeintliche Freiräume.

Anderson war bei weitem nicht der einzige unter den Protagonisten jener halboffiziellen Veranstaltungen, welcher der Staatssicherheit berichtete. Aber er gilt als der gewissenloseste und zugleich als der gewissenhafteste von ihnen. In den Berichten mischen sich private Charakterbilder mit soliden literarischen Expertisen.

Hendel hat den Dichter schon in ihrem letzten Film „Vaterlandsverräter“ befragt. Im Unterschied zum dort porträtierten Arbeiterschriftsteller Paul Gratzik konnte oder wollte Anderson sich aus seiner Stasi-Verbindung nicht lösen. Das hängt wohl vor allem damit zusammen, daß er nicht einfach Leute aushorchte, sondern in großem Umfang und fast zügellos den ästhetischen Widerstand erst organisierte. Dabei war der Gesamtumsatz der Umtriebe für alle daran Beteiligten weit größer als der persönliche Vorteil für Anderson. Der Dichter Richard Pietraß hat einmal darauf hingewiesen, daß er die Freunde nicht nur verraten, sondern auch berühmt gemacht hat. Ruhm und Bedeutung waren ihm selbst offenbar wichtiger als Freiheit und Selbstbestimmtheit.

Hendel spart sich dramatische Gegenüberstellungen. Sie befragt die damals Beteiligten, jeden einzeln für sich. Eine Wohnküche in der Schönfließer Straße war das Hauptquartier und Organisationsbüro der vielleicht größten informellen Künstleragentur jener Jahre. Hier fanden Lesungen, Besprechungen und Ausstellungen statt. Auch die Regisseurin hat von dieser Ausstrahlung noch etwas mitbekommen: „Für mich war er, von heute aus betrachtet, eine sehr moderne Gestalt, eine Art umtriebiger Manager.“

Für den Film wurde das Küchen-Interieur im Studio wiedererrichet. Der virtuelle genius loci soll die Geister der Vergangenheit beschwören: „Er wußte absolut nichts davon, als wir mit ihm ins Studio fuhren, und fühlte sich zu unserer Überraschung schnell wohl in dieser Welt, die nach wie vor existiert, aber die heute nicht mehr die seine ist.“

In einer maßstäblichen Holzkiste sind all die Souvenirs angebracht, wie sie der Inhaber Ekkehard Maaß heute noch um sich hat. Beide Männer entzweit eine unversöhnliche Rivalität. Der jüngere lebte im abgetrennten Bereich derselben Wohnung als der Geliebte der Frau des Hausherrn.

Wenn der Film einen Helden kennt, dann ist es Wilfriede Maaß. Anderson schwärmt von ihren ausdrucksstarken dunklen Augen, die ihm bei der ersten Begegnung als geistiges Zentrum des Ortes auffielen. Sie selbst weiß ruhig und klug über das Vorgefallene zu berichten. Vielen anderen ist es irgendwie unangenehm, einmal von Anderson angezogen gewesen zu sein. Besonders bei den Männern ist das der Fall. Zum Beispiel bei dem Fernsehjournalisten Holger Kulick, der damals für „Kennzeichen D“ aus Ost-Berlin berichtete. Für ihn hat sich peinlicherweise das Verhältnis von Objekt und Subjekt der Berichterstattung nachträglich verkehrt.

Während Anderson noch immer der Fanatiker für die Kunst ist, der mit der Sprache um Zugang zum Geheimnis des Seins ringt und sich als Herausgeber für andere Lyriker einsetzt, ist der frühere Rebell Roland Jahn zum Leiter der Behörde für die Stasi-Unterlagen geworden. Sein Internetredakteur Holger Kulick hat unterdessen gemeinsam mit Toralf Staud sein „Buch gegen Nazis“ veröffentlicht. Es sind Berufspharisäer, die sich nur dekorativ mit Zweifeln überpudern.

Der anarchistische Dichter und Kneipenwirt Bert Papenfuß-Gorek urteilt ausgewogener: „Es lag nicht nur an seinem Charakter, sondern auch an unserem ungeschickten Verhalten.“ Anderson war zugleich rebellisch und angepaßt, fürsorglich und egoistisch, zuverlässig und verräterisch, spontan und kalkuliert. Er hat sich nicht selbst zum Messias der Szene gemacht, von der ihn heute viele am liebsten gekreuzigt sähen. Zum Beispiel Ekkehard Maaß, der davon schwärmt, daß in Georgien mit Verrätern kurzer Prozeß gemacht werde. Die Ausstellungsmacherin Ingrid Bahß hat ihren Mann neben sich völlig vergessen, als sie dem erotisierenden Habitus des Poeten nachhängt.

Der Film macht nichts klar. Er zeigt die Zusammenhänge in ihrer verwirrenden Unschärfe. Anderson hat seine Biographie selbst so unauflösbar mit der Geheimdienstprosa verzwirnt, daß wiederum nur die Literatur aus diesem Labyrinth führen könnte. Vermutlich hat er auf allen Irrwegen nie einen anderen Ausweg ernsthaft in Erwägung gezogen. Seine Gedichte zu lesen ist in jedem Fall lohnend. Als Motto begleiten Verse den Film: „Vor dem Gartenhaus stehen drei Birken, die heißen Schuld und Sühne, ich weiß, welche die liebste mir ist.“ Der verborgene Sinn läßt schlußfolgern, daß es keine von den beiden genannten ist, sondern die unausgesprochene dritte, die weder Schuld noch Sühne heißt.

Foto: Dichter Sascha Anderson: Ruhm und Bedeutung waren ihm wichtiger als Freiheit und Selbstbestimmtheit

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