© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Der Igelant, das tückische Wesen
Zäsur 1989: Während einer Feierstunde zum 25. Jahrestag des Mauerfalls hält der Schriftsteller Uwe Tellkamp eine ebenso brillante wie markante Festrede
Christian Dorn

In der globalisierten Welt bedürfen wir eines konkreten Ortes, um uns unserer Heimat zu vergewissern. Ebenso wichtig sei eine Verankerung in den Generationen und in der Zeit, angesichts einer Gegenwart, in der wir von historischen Jahrestagen umstellt sind: „1914, 1939, 1989 und 2004 – die Osterweiterung der EU, die zu häufig vergessen wird“. So sieht es die einstige DDR-Bürgerrechtlerin Hildigund Neubert. Dabei impliziert der Ort ihrer Ansprache im Haus der Berliner Festspiele eine gewisse Ironie: Liegt doch diese „urwestberliner Einrichtung“, einst Stätte der Freien Volksbühne, versteckt in einer Seitenstraße des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf, an einem eigentlichen Nichtort.

Dabei bedeutete die Zäsur im Herbst 1989 eine „Zeitenwende“, so Neubert. Der Mauerfall war eine „Explosion des Lebensraums, plötzlich öffnete sich die Zeit, Deutschland war plötzlich dreimal so groß“. Für sie sei es eine „Revolution“ gewesen, keine „Wende“. Damit stellte sie sich gegen den Titel der Feierstunde unter dem Motto: „Wendetage / Wendenächte“. Dieselbe Ablehnung äußerte Schriftsteller Uwe Tellkamp, Festredner des Abends. Dessen improvisierter Vortrag hinterließ beim Publikum nachhaltigen Eindruck.

Tellkamp reflektierte die Zäsur von 1989 anhand selbstgewählter Begriffe, beginnend beim Stichwort „Experiment“. Ein solches sei die Zeit seit 1989, bis heute. Auch die erratischen Entscheidungen der Bundeskanzlerin würden von Beobachtern auf diesen Begriff der Laborarbeit gebracht. Zugleich sei es aber auch ein „DDR-Experiment“ gewesen, „die Zeit anzuhalten“. Spätestens seit 1917 hätten die Utopien versucht, die Uhren anzuhalten. Dabei erschienen uns die „roten weniger schlimm“.

Kehrwoche läßt den Blockwart auferstehen

Tellkamp, aufgewachsen im Dresdner Villenstadtteil Weißer Hirsch, widmete sich sodann dem „Recht“ und ging mit Gysi ins Gericht: „Natürlich gab es in der DDR auch Recht“, trotzdem sei es ein Unrechtsstaat gewesen, nicht nur wegen der fehlenden Verwaltungsgerichtsbarkeit. „Wir beurteilen das Dritte Reich ja auch nicht nach der Autobahn.“

Relevant sei auch der Begriff der „Fusion“. Stellte man sich die Wiedervereinigung von Elefant und Igel vor, entstünde ein „Elefigel“ (so fühle er sich im Osten) oder – vor allem in Westdeutschland oder in Brüssel anzutreffen – der „Igelant“. Dieser sei ein „tückisches“ Wesen, das die Frage aufwerfe, ob die DDR wirklich vorbei ist. Beispielhaft seien hierfür die Bürokratie, das Bestimmenwollen und die Prinzipien von Gleichmacherei und Ordnungswahn. In Karlsruhe etwa existierten viele sehr lebendige Igelanten. Die dortige Kehrwoche mit vierzehn verschiedenen Mülltonnen lasse den Blockwart auferstehen, der sich nicht vom Hauswart in der DDR unterscheide.

Gegen die Mär von der friedlichen Revolution setzte der bis heute in Dresden beheimatete Tellkamp ein verstörendes Bild: Er habe sich ein Ende wie in Rumänien oder Tschechien gewünscht, dann gäbe es heute nicht mehr diese Illusionen. Er berichtete von einem Vorfall aus Rumänien, wo Securitate-Leute Schulkinder erschossen hatten. Daraufhin seien die Mörder gelyncht worden. Um das auf dem Dach liegende, brennende Auto mit den Tätern im Innern hätten die Menschen getanzt. Tellkamp lakonisch: „Hin und wieder muß man sich das erlauben.“

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