© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Brünnhilde mit Mobiltelefon
Das Bayreuth des Nordens: „Der Ring des Nibelungen“ am Anhaltischen Theater Dessau
Sebastian Hennig

In Dessau wurde im Jahr 1938 das damals gewaltigste Theater nördlich der Alpen eröffnet. Eine der größten Drehbühnen Deutschlands läßt heute noch die verblüffendsten Wandlungen spielend möglich werden. Kaum einem Werk kommt das so gelegen wie dem „Nibelungen“-Universum von Richard Wagner. Das entsprach auch den Intentionen der Bauherren. Lange bevor das Theater über solche Möglichkeiten verfügte, war die Beziehung zu Wagner hier fest geknüpft. „Ich bezeuge laut, nie eine edlere und vollkommenere Gesamtleistung auf einem Theater erlebt zu haben“, äußerte dieser 1872 nach einem Besuch.

Im Orchester der ersten Bayreuther Festspiele spielte dann vier Jahre darauf auch ein Dutzend Musiker der Dessauer Hofkapelle. Dessau galt bald als „Bayreuth des Nordens“. Das im Krieg schwer zerstörte Gebäude wurde rasch aufgebaut. Zwischen 1953 und 1965 fanden hier Wagner-Festspiele statt. Seit 1963 ist nun erstmals wieder ein kompletter „Ring des Nibelungen“ auf der Dessauer Bühne zu erleben.

Nachdem 2009 André Bücker als Intendant vom Nordharzer Städtebundtheater nach Dessau wechselte, kam es zu einer kompletten Neuorientierung des Anhaltischen Theaters. Zugleich mit ihm kamen der Generalmusikdirektor Anthony Hermus, die Chefregisseurin und der Ballettdirektor an das Haus. Bei Berücksichtigung der üblichen Planungszeiten ist davon auszugehen, daß die „Ring“-Inszenierung das erste Großunternehmen dieser neuen Ära war.

2012 hatte zuerst „Götterdämmerung“ Premiere. Denn die verhängnisvolle Handlung wird in Dessau von ihrem Ende aus im Rückwärtsgang entwickelt. Das ist ein kluges Unterfangen, denn so manche ambitionierte Inszenierung hat sich schon heillos mit ihren Interpretationsbögen vergeigt, oder es kam ihr die Kraft für die große Auflösung abhanden. Wer also die Knoten der Verstrickung gleich festgezurrt hält, der kann in Ruhe die einzelnen Stränge zu ihrem Ursprung zurückverfolgen.

Außerdem ist der kostenintensivste Teil gleich bewältigt, und die Ausdauer kann für die künstlerische Umsetzung verwendet werden. Der Dessauer Richard-Wagner-Verband und private Unterstützer sind wichtige Verbündete des Anhaltischen Theaters bei diesem Unternehmen. Mit den Dessauer Wagner-Festspielen werden sich im nächsten Jahr die gemeinsamen Bemühungen für einen „Ring des Nibelungen“ in der Bauhausstadt erfüllen. Die internationale Tagung des Wagner-Verbands wird 2015 zeitgleich zum ersten kompletten „Ring“-Zyklus in Dessau stattfinden.

Der Fortbestand des Theaters ist gefährdet

Doch das Verhältnis zum Land ist nicht ungetrübt. Das Theater steht inzwischen auf der Roten Liste der gefährdeten Kultureinrichtungen. Für den Generalintendanten des Hauses und Regisseur dieses „Rings“ wird es wahrscheinlich die letzte Arbeit in Dessau sein. Sein Vertrag wurde ab 2015 nicht mehr verlängert, die Stelle ausgeschrieben. Kritik am Sparverhalten des Landes brachte ihm die Ungnade ein. „Es ist ganz klar, daß man mich hier nicht haben will“, sagte Bücker gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung. „Ich werde mich nach fünf erfolgreichen Jahren nicht auf ein Verfahren einlassen, in dem ich keine Chance habe. (…) Ich werde gekippt, weil ich nicht genehm bin.“

Ein aussagekräftigeres Argument als die gegenwärtige Spielzeit ist in dieser Auseinandersetzung nicht denkbar. Mit der Premiere von „Die Walküre“ ist Dessau nach dem Computerspiel-„Siegfried“ (JF 9/14) einen großen Schritt weitergerückt und zugleich ein Theaterwunder geschehen. Das Dessauer Haus wirkt nun nicht mehr allein baulich groß.

Die Anhaltische Philharmonie unter Anthony Hermus zeigte sich in bester Kondition. Außer Robert Künzli (Siegmund) und Stephan Klemm (Hunding) waren alle weiteren vier Hauptpartien mit Ensemblemitgliedern besetzt, die in keiner Weise hinter den Gästen zurückstanden. Kammersängerin Iordanka Derilova gab eine energische Brünnhilde. Rita Kampfhammer war eine ungewöhnlich sinnlich-leidenschaftliche Fricka und Tom Paulsen ein Wotan voll tragischer Vitalität. Die gestisch-mimische Posse ihrer Auseinandersetzung war durch den dieser Szene innewohnenden Wagnerschen Schalk gerechtfertigt.

Die modernistischen Requisiten haben die verhängnisvolle Tragweite der Geschichte nie verjuxt. Die Anklänge an die klassische Moderne sind wirklich mehr klassisch und elegant als bemüht modern. Ein klare und lebendige Beleuchtung der Bühne schärft dem Betrachter die Sinne.

Einzelne Buhrufe und Wellen der Zustimmung

Das Programmheft läßt sich darüber aus, wie wichtig die Inszenierung im 19. Jahrhundert für den Erfolg einer Oper war. Das Publikum goutierte damals historistische Kostüme, echte Pferde und dergleichen Schaueffekte. Unzweifelhaft ist heute das Mobiltelefon in der Hand der Brünnhilde das, was dazumal die schwarzen Rabenflügel am Helm Hagens waren: ein dem aktuellen Zeitgeist nächstliegendes Attribut.

Doch die Inszenierung verhält sich auch sonst nicht gleichgültig gegen solche Zeichen. So ergibt sich aus solchen Assoziationen etwas mehr Sinn, als man sonst davon gewohnt ist. Wotan ist hier ein Filmregisseur, dem oft gar nicht zusagt, was er durch den Motivsucher erblicken muß. Sein auf der Bühne agierender Kameramann (Kruno Vrbat) läßt mittels Blue-Box-Projektionen die realen Sänger vor mythischen Orten der USA wie Death Valley, Mount Rushmore oder Grand Canyon erscheinen. Die Eigenbewegungen von Sängern, Drehbühne und Kamerafahrt verbinden sich zu einer unheimlich komplexen Vision.

Doch zuletzt stellt sich doch die Frage, ob die Medienkritik selbst nicht weiteres Öl ins Feuer unserer Menschheitsdämmerung gießt, anstatt freundlichere Wege offenzuhalten. Zum „Rheingold“ im Januar werden wir mehr darüber erfahren können. Dann soll der letzte Wegabschnitt vom Zelluloid-Zeitalter zurück zur Zeichnung und Kalligraphie beschritten werden. Als sich das Orchester am Premierenabend zum Schlußapplaus auf der Bühne aufstellte, erhob sich das jubelnde Publikum von seinen Plätzen. Einzelne Buhrufe für die Regie gingen unter Wellen der Zustimmung unter.

Die nächsten „Walküre“-Vorstellungen im Anhaltischen Theater Dessau, Friedensplatz 1a, finden am 18. Oktober, 23. November 2014 und 18. Januar 2015 statt. Die Premiere von„Rheingold” folgt am 30. Januar 2015.

www.der-ring-in-dessau.de

Foto: Wotan (Ulf Paulsen), Brünnhilde (Iordanka Derilova): Anklänge an die Moderne wirken nicht bemüht

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