© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

„Mit dem Kopf durch die Wand nach Utopia“
Bevor Thälmann kam: Das kurze, wilde Leben des bürgerlichen KPD-Führers Werner Scholem
Reiner Treichel

Wer sich mit deutsch-jüdischer Osmose im 20. Jahrhundert beschäftigt, kommt an Gershom Scholem nicht vorbei. Und selbst geistesgeschichtlich unbeschlagene Neomarxisten kannten mindestens seinen Namen, da Scholem zu den Urfreunden des in den siebziger Jahren zur Seminarikone petrifizierten Walter Benjamin zählte. Das war freilich zu einer Zeit, als aus dem 1923 nach Palästina ausgewanderten Berliner Zionisten schon längst ein in Israel mit Ehren überhäufter Gelehrter geworden war, ein Jerusalemer Professor, der weltweit als der führende Kabbala-Forscher, als Spezialist für die jüdische Mystik des Mittelalters und ihre Fortwirkungen bis in die Moderne galt.

Renitenter Scholem wird Mitschüler von Ernst Jünger

Von seinem älteren Bruder Werner, am 17. Juli 1940 im KZ Buchenwald ermordet, sprach hingegen über fünfzig Jahre lang niemand in deutschen Intellektuellenzirkeln. Bis Alexander Kluge und Hans Magnus Enzensberger ihn zum Helden einer wüsten Spionagegeschichte erkoren, wie sie abenteuerlicher kaum zu erfinden gewesen wäre. Vor allem Enzensbergers gerade im Scholem-Kapitel Fakten und Fiktionen unbekümmert mischende Biographie des 1934 verabschiedeten, der Militäropposition gegen das NS-Regime zugerechneten Reichswehr-Generals Kurt von Hammerstein-Equord („Hammerstein oder der Eigensinn“, JF 12/08) begründete den späten Ruhm des kommunistischen Politikers.

Demnach bändelte der kurzzeitig amtierende Steuermann der KPD, der sich stalinistischen Direktiven nicht beugte, deshalb aus der Partei flog und ein Jurastudium begann, mit seiner Kommilitonin Marie Luise an, der Tochter des Generals. Das verliebte Fräulein von Hammerstein belieferte ihn darum eifrig mit Kopien der Geheimsachen aus dem Schreibtisch ihres Vaters. Der größte Coup sei dem Duo gelungen, als es den Text des auf „Lebensraum im Osten“ zielenden außenpolitischen Programms erbeutete, das Adolf Hitler bereits vier Tage nach der Machtergreifung der Generalität im Bendlerblock präsentierte. Stalin, so stand nun für Zeithistoriker mit letzter Sicherheit fest, sei somit bereits im Februar 1933 über Hitlers Expansionspläne orientiert gewesen.

Packende Geschichte, doch leider nur gute Kolportage, wie die erste, durchgängig auf Archivquellen gestützte Biographie Werner Scholems ergibt, mit der Ralf Hoffrogge 2013 in Potsdam promovierte. Literarischen Ehrgeiz und dichterische Phantasie à la Enzensberger ersetzt er durch wissenschaftliche Solidität. Das zeigt sich eindrucksvoll im Kapitel über den vermeintlichen Meisterspion Scholem und dessen geheimnisumwitterte Moabiter „Hansazelle“. Denn zu mehr als stümperhaften „Zersetzungsversuchen“ am untauglichen Objekt, alkoholisierten Soldaten der Reichswehr im Lokal „Dreckige Schürze“, reichte es nicht. „Kneipengespräche“ statt „Agententreiben“ – nichts weiter förderte die Polizei, wie Hoffrogge minutiös anhand von Justizakten belegt, bei ausufernden Ermittlungen nach Scholems Verhaftung zutage. Hitlers Rede vom 3. Februar 1933 gelangte allerdings trotzdem umgehend nach Moskau, aber nicht durch Marie Luise, sondern durch ihre Schwester Helga, die wirklich mit einem Agenten des KPD-Nachrichtendienstes liiert war, mit Leo Roth, den, ungeachtet solcher Erfolge als „Kundschafter“, 1937 Stalins „Große Säuberung“ verschlang.

KPD-Funktionär wird als Basisdemokrat verharmlost

Genauso akribisch wie diese unterhaltsame Episode recherchiert der Autor das kurze, wilde Leben des Sohnes eines wohlsituierten, assimilierten jüdischen Druckereibesitzers. Das Rebellentum begann schon auf dem Gymnasium, was väterliche Verbannung auf eine „Knabenpresse“ in Hannover nach sich zog, wo der ebenso renitente Ernst Jünger sein Banknachbar war. Anders als Jünger fügte sich Scholem aber auch nicht ein in die „Schule der Nation“. Unwillig versah der „Rote in Feldgrau“ den Kriegsdienst, unterbrochen von einem „Fronturlaub“ in Militärgefängnissen, nach der Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung.

Scholems Stunde schlug mit der Novemberrevolution. Beziehungen zu Linksaußen-Männern der SPD, die 1917 die USPD gründeten, verhalfen ihm nach der Vereinigung von USPD und KPD 1920 zur Karriere als Chefredakteur des Parteiblattes Rote Fahne und zum Abgeordnetenmandat im Preußischen Landtag. Nach dem desaströsen „Deutschen Oktober“ 1923, mit den gescheiterten kommunistischen Aufständen in Hamburg und Thüringen, ging es im April 1924 sogar noch höher hinauf, in den Reichstag und, als für die „Bolschewisierung“ verantwortlicher Organisationsleiter, an die Spitze der KPD.

Ebenso rasch vollzog sich seit 1925 die Ausbootung, da der mit der Parteidisziplin hadernde „bürgerliche“ Scholem, der „mit dem Kopf durch die Wand nach Utopia“ strebte, nach Lenins Tod dem nun von Stalin diktierten Moskauer Kurs nicht mit ähnlichem Kadavergehorsam folgen wollte wie der devote, „proletarische“ Ernst Thälmann. Als linker Dissident löckte Scholem mit einem als „trotzkistisch“ gebrandmarkten, ins Sektiererische abgleitenden „Leninbund“ zwar noch eine Weile wider den Parteistachel, entschied sich 1928 nach dem Verlust des Reichstagsmandats indes für den Rückzug ins Privatleben.

Diese verdienstvolle, die Spur der Akten bis nach Moskau und Jerusalem verfolgende, das Material fleißig ausschöpfende Rekonstruktion dürfte als detailreiche Vergegenwärtigung einer politisch exponierten Existenz schwerlich zu übertreffen sein. Hingegen versagt Hoffrogge über weite Strecken, wenn es darum geht, die individuelle Biographie im historischen Kontext des „Zeitalters der Extreme“ verständlich werden zu lassen. Am schwersten wiegt dabei, daß hier ein militanter KPD-Funktionär, der darauf hinwirkte, die vom „Klassenfeind“ getragene Weimarer Republik gewaltsam mit Terror, Bürgerkrieg und Revolution zu liquidieren, wie ein von Mahatma Gandhi erzogener Basisdemokrat verkauft wird.

Die „eigentlichen Antidemokraten“, wie er die Kapp-Putschisten nennt, stehen für Hoffrogge ausschließlich rechts. Das ist etwa so überzeugend wie seine Ansicht, „das Deutsche Reich wollte [1914] den Krieg“. Die Beispiele solcher grotesker Deutungen lassen sich beliebig vermehren. Überall klebt der Junghistoriker an alten, ausgeleierten Schablonen, die teils aus der geschichtsideologischen Mottenkiste der DDR, teils aus dem volkspädagogischen Fundus der BRD stammen. Immerhin zahlte sich diese kritiklose politische Korrektheit für ihn insoweit aus, wie die Rosa-Luxemburg-Stiftung des SED-Mutanten „Die Linke“ bereit war, einen Teil der Druckkosten dieser Dissertation zu übernehmen.

Ralf Hoffrogge: Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895–1940). UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz/München 2014, gebunden, 495 Seiten, Abbildungen, 24,99 Euro

Foto: Werner Scholem spricht zu KPD-Anhängern, Anfang der zwanziger Jahre: Von Stalin ausgebootet

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