© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Welterklärers Vermächtnis
In seinem letzten Buch, das Peter Scholl-Latour wenige Tage vor seinem Tod vollendete, analysiert der Jahrhundert-Journalist ohne Altersmilde die Lage an derzeitigen Brennpunkten der Weltpolitik zwischen Donbass, Irak und dem Gaza-Streifen
Günther Deschner

Die deutsche Medienlandschaft ist ärmer geworden, als am 16. August Peter Scholl-Latour im Alter von 90 Jahren in Rhöndorf am Rhein verstarb. Auf dem dortigen Waldfriedhof wurde er im engsten Familienkreis ohne Medienpräsenz in aller Stille begraben, einer der herausragendsten, universal gebildetsten und mutigsten Journalisten unserer Zeit.

Er war fleißig bis zuletzt – und so ist postum ein Buch erschienen, das man als Vermächtnis des großen „Welterklärers“ Scholl-Latour begreifen kann: „Der Fluch der bösen Tat“ behandelt Begegnungen, Erfahrungen und Erkenntnisse über „das Scheitern des Westens im Orient“, so der Untertitel, ist aber auch ein Buch über das erratische Auftreten der „führenden Weltmacht“ USA und ihrer außenpolitischen Entourage in anderen Weltgegenden – zum Beispiel jüngst in der Ukraine-Krise, und nicht zuletzt über die Fakten- und Meinungsmanipulationen, die zu den Realitäten unseres ein wenig verkommenen Meinungsbetriebs gehören.

Nur wenige Tage vor seinem Tod hatte der Bestsellerautor die letzten Manuskriptteile für dieses, sein allerletztes Buch fertiggestellt – handschriftlich. Was das pure Handwerk des Schreibens angeht, kann man Scholl-Latour also durchaus altmodisch nennen: Er benutzte weder einen PC noch Internet, kaum oder gar nicht E-Mail oder Mobiltelefon.

Alles andere als altmodisch hingegen sind die Erkenntnisse, die „PSL“, wie ihn die Kollegen nannten, aus der kontinuierlichen journalistischen Beobachtung der Krisen und Entwicklungslinien des Orients und angrenzender Regionen gewann, und die Art und Weise, wie er sie in ungezählten Artikeln, Dutzenden von Fernsehbeiträgen und 30 Büchern, die meist Bestseller wurden, verarbeitete.

Sein kritisch-böses Urteil über das amerikanische Irak-Abenteuer George W. Bushs oder die ätzende Skepsis, mit der er später dem westlichen Jubeltaumel über den „Arabischen Frühling“ begegnete, wie er die Erwartung einer raschen Demokratisierung der Staaten des Orients nach westlichem Vorbild als naiv entlarvte, ist in nachhaltiger Erinnerung geblieben. Daß er über die Jahrzehnte hinweg fast immer gegen den westlichen Meinungs-Mainstream schwamm und daß er in seiner Wortwahl nicht reflexartig Propagandathesen amerikanischer Politiker wiedergab, die er als „Gefangene der eigenen Lügen“ titulierte, trug ihm auch Kritik ein und machte ihm viele Gegner.

Scholl-Latour hat so gut wie alle Länder der Erde bereist, war seit seinen frühesten Journalisten-Tagen in allen großen Krisengebieten, und galt bis zuletzt als einer der hellsichtigsten Kenner sämtlicher Problemregionen der Erde. Konfliktgebiete, politische Brandherde und Kriegsschauplätze waren für ihn so etwas wie eine zweite Heimat – und auch deswegen hat sein Urteil Gewicht. Der weitgesteckte Radius seiner Interessen wird auch in dem vorliegenden Buch deutlich: Von Beirut bis Basra, von Aleppo bis Amarah führt er seine Leser über den ethnisch und religiös gesprenkelten Flickenteppich, den die Geschichte seit 2.000 Jahren vom Mittelmeer bis zum Persischen Golf ausgebreitet und dessen Muster sie seither immer wieder aufs neue variiert hat.

Wie in all seinen Büchern sind Scholl-Latours Kronzeugen und Quellen auch in diesem Vermächtnis-Buch selten Präsidentenberater oder Politikprofessoren, sondern meist direkt betroffene Politiker, Geheimdienstler, Ex-Offiziere, lokale Journalisten – und nicht zuletzt seine eigene ganz persönliche Wahrnehmung.

Das erste Kapitel ist überschrieben mit „Gefangene der eigenen Lügen“. Die wichtigsten Zeilen daraus könnten vielen Lesern in dieser verwirrten Zeit zu denken geben: „Vor einem Jahr konnte die Welt mit Gelassenheit auf das anstehende Jahr 2014 blicken. Eine kriegerische Konfrontation auf europäischem Boden wie vor hundert Jahren schien nicht mehr vorstellbar. Man redete sich ein, aus den Lektionen des Ersten Weltkriegs gelernt zu haben. Doch heute sind diese Illusionen zerplatzt.“

„Der absurdeste Territorialkonflikt“, so schreibt er, „spielt sich in der Ukraine ab, präzis in einer Region, die im Zweiten Weltkrieg zu den blutigsten Schlachtfeldern gehörte.“ Zum tragischen Absturz der Malaysia-Airlines-Maschine MH17, der Mitte Juli passierte und der den bis dahin kontrollierbaren Konflikt ganz aus dem Ruder laufen ließ, heißt es, es sei bestimmt nicht im Interesse Wladimir Putins gewesen, eine solche Tragödie heraufzubeschwören: „Das dramatische Ereignis, das Rußland sofort der allgemeinen Verurteilung aussetzte, war für ihn ein schwerer Rückschlag. Wenn eine Regierung ein Interesse daran hatte, eine solche Eskalation zu vermeiden, dann diejenige im Kreml. Aber der Schuldspruch war schon gefällt ...“

Auch mit dem von ihm ansonsten meist mit kritischer Zurückhaltung begleiteten Israel geht er mit ungewohnter Schärfe ins Gericht: „Durch einen grausamen Zufall wurden am Tag des MH17-Absturzes die Furien des Krieges auch in unmittelbarer Nachbarschaft Europas entfesselt: Israels Regierungschef Netanjahu gab seiner Armee den Befehl, in den Gaza-Streifen einzurücken (...) Die Verluste unter der palästinensischen Zivilbevölkerung waren entsetzlich und trugen dazu bei, daß die Weltöffentlichkeit, die bislang Israel zuneigte, in Protest und Abscheu gegen den Judenstaat umschlug.“

Auch andere Passagen des Startkapitels bleiben in dem scharfen Ton, den man sich als Autor am ehesten erlaubt, wenn man auf die politischen Befindlichkeiten des Medienbetriebs keine größeren Rücksichten mehr zu nehmen braucht: „Ich bin mir bewußt“, räumt PSL ein, „daß ich mich dem Vorwurf des Antiamerikanismus aussetze. Aber wir erliegen spätestens seit dem Irak-Feldzug einer umfassenden Desinformation, die in den USA, Großbritannien und Israel durch perfekt organisierte Institutionen betrieben wird und im Grunde ebenso ernst zu nehmen ist wie die allgegenwärtige Überwachung durch die NSA.“

Auch für die moralischen Befindlichkeiten im heutigen Deutschland findet Scholl-Latour scharfe Worte, etwa wenn er schreibt: „Man verschone die junge deutsche Generation vor der ‘Moralkeule des Holocaust’, wie Martin Walser es nannte. Aber andererseits: Was treibt wohl die deutsche Kanzlerin, die sich als Zarin aus der Uckermark geriert, wenn sie dem russischen Staatschef beim Streit um die Ukraine mit der Miene einer Oberlehrerin die Leviten liest?“ Wenn Kanzlerin Merkel auf ihrem Schreibtisch ein Porträt der Zarin Katharina der Großen aufgestellt habe, dann werde es Putin wohl erlaubt sein, sein Büro mit dem Bild Peters des Großen zu schmücken.“

Peter Scholl-Latour: Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Westens im Orient. Propyläen-Verlag, Berlin 2014, gebunden, 352 Seiten, Abbildungen, 24,99 Euro

Foto: Finnland ist Ehrengast der Buchmesse in Frankfurt am Main 2014; da aber die Literaturbeilage der JUNGEN FREIHEIT in der Auswahl der Besprechungen den finnischen Buchmarkt weitestgehend ignoriert, warten wir wenigstens mit Bildern und Weisheiten aus dem reizvollen Nordstaat auf: Ei silmä osaa ota (Das Auge nimmt nichts weg)

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