© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Ohne Haß und Rache
Eberhard Straub nimmt den Wiener Kongreß zum Anlaß, den Blick auf die danach herrschende europäische Mächtekonstellation zu werfen
Hans Fenske

Mitte September 1814 kamen in Wien die maßgeblichen Staatsmänner Europas zusammen, um den Kontinent neu zu ordnen. Der Kongreß dauerte knapp acht Monate. Das Buch, das Eberherd Straub diesem Geschehen gewidmet hat, bietet weit mehr als der Titel erwarten läßt. Der Autor spannt einen großen Bogen vom Beginn der Revolutionskriege 1792 bis in die ersten Jahre nach dem Großen Krieg von 1914 bis 1918. Am Schluß steht ein Ausblick auf die Gegenwart. Nur zwei der sieben Kapitel betreffen den Kongreß, sie nehmen ein Viertel des Textes ein. Eines gilt dem gesellschaftlichen Leben in Wien während des Kongresses, das andere den dortigen Verhandlungen und deren Ertrag.

Der Krieg der Jahre 1792 bis 1814 war, so Straub, der bis dahin widerwärtigste der europäischen Geschichte, er forderte so viele Tote wie zuvor nur der Dreißigjährige Krieg und richtete enorme Schäden an. Die Revolutionäre und nach ihnen Napoleon waren weit entfernt vom Denken in Kategorien des Gleichgewichts, das nach dem Spanischen Erbfolge­krieg im Frieden von Utrecht 1713 zum Leitbegriff der Staatenbeziehungen gemacht worden war.

Die von der Aufklärung geprägten Staatsmänner der gegen Napoleon im Felde stehenden Mächte knüpften an das vorrevolutionäre Denken an. Es war ihnen selbstverständlich, daß das Vergangene vergessen sein mußte und daß Haß und Rachegefühle beim Friedensschluß keine Rolle spielen durften, ebenso, daß Frankreich als Großmacht erhalten bleiben mußte. Der österreichische Außenminister Metternich, der Napoleon aus seiner Zeit als Botschafter in Paris von 1806 bis 1809 gut kannte, wollte lange sogar dessen Sturz vermeiden. Frankreich bekam zuvor im Mai 1814 einen sehr milden Frieden, die Resultate der Verhandlungen in Wien nennt Straub eine schöpferische Restauration aus dem Geist der vorrevolutionären Welt. Dabei spielte Metternich eine große Rolle. Als Halter der Waage des Gleichgewichts sah er die beiden deutschen Großmächte. Demzufolge mußten sie in einem friedlichen Dualismus miteinander leben. Ihre Balance in der Mitte Europas wurde zum Fundament des europäischen Gleichgewichts, sie konnten Frankreich und Rußland auseinanderhalten.

Gelegentlich war das europäische Konzert nach 1815 dissonant. Die erste schwere Belastung der in Wien geschaffenen Ordnung brachte das Revolutionsjahr 1848/49. Das Fundament der europäischen Ruhe, das mitteleuropäische Gleichgewicht, wurde untergraben, vor allem durch die verwegene Politik des österreichischen Ministerpräsidenten Fürst Schwarzenberg. Wenige Jahre später zogen Frankreich und Großbritannien gegen das Zarenreich zu Felde. Durch diesen auf der Krim ausgefochtenen Krieg fiel das europäische Konzert auseinander. Der Pariser Friedenskongreß 1856 läutete eine neue Epoche ein, die nicht eine des Friedens, sondern mehrerer Kriege war. Durch die Einigung Deutschlands wurde das Gleichgewicht wiederhergestellt. Es war der Politik Bismarcks, „des wahren Erben Metternichs“ zu danken, daß es nicht zu einem großen europäischen Kriege kam. Das Deutsche Reich war die ausgleichende Macht in der Mitte.

In der Ausklammerung der orientalischen Frage auf dem Wiener Kongreß lag nach Ansicht Straubs eine Unvollkommenheit des Wiener Friedens mit unabsehbaren Folgen. Den verschiedenen Krisen auf dem Balkan widmet er breiten Raum. Daraus erwuchs 1914 der Große Krieg, durch den das Wiener Werk vollends vernichtet wurde. Dieser Krieg wurde wie der 1792 begonnene sogleich ideologisiert – auf der einen Seite die Guten, auf der anderen die Schlechten, die endgültig niedergerungen werden mußten. So war eine Verständigung zwischen den Gegnern nicht möglich. Den Staatsmännern, die 1919/1920 in Paris die Friedensverträge formulierten, stellt Straub ein sehr schlechtes Zeugnis aus. Das Friedenswerk des Wiener Kongresses war dagegen sehr viel gelungener.

Bei der Fülle der angesprochenen Aspekte konnten viele Fragen nur sehr kurz behandelt werden. Hier und da wünschte man sich einige Sätze mehr. Nicht allen Urteilen Straubs läßt sich beipflichten. Daß es 1814 noch keine Nationen gab, trifft in dieser kategorischen Form gewiß nicht zu. Wäre es tatsächlich so gewesen, hätte Erzherzog Karl im April 1809 bei Beginn des Österreichischen Feldzuges gegen Napoleon einen Aufruf „An die deutsche Nation“ wohl nicht für angezeigt gehalten. In ihm wurde gesagt, es gelte, Deutschland die Unabhängigkeit und Nationalehre wieder zu beschaffen.

Zu der irrigen Ansicht, die Preußen hätten vor 1870 gar keine Vorstellung vom künftigen Deutschen Reich gehabt und die Nation sei ihnen fragwürdig gewesen, wäre Straub nicht gekommen, wenn er sich mehr mit der öffentlichen Meinung befaßt hätte. Insgesamt wird das Werk der in Wien versammelten Staatsmänner in ein zu helles Licht gerückt. Gleichwohl: Der Leser hat ein gedankenreiches und anregendes Buch vor sich.

Eberhard Straub: Der Wiener Kongreß. Das große Fest und die Neuordnung Europas. Klett-Cotta, Stuttgart 2014, gebunden, 255 Seiten, Abbildungen, 21,95 Euro

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