© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Von den Meerschäumern lernen
Brendan Simms‘ Vision eines Europa, das künftig weniger von deutscher Trägheit, sondern mehr von der angelsächsischen Mission geprägt wird
Eberhard Straub

Ohne Macht läßt sich nichts machen. In diesem Sinne begriffen europäische Historiker in der Tradition Leopold von Rankes Geschichte als Machtgeschichte, als das Drama zwischen den großen Mächten. Die Macht galt ihnen deshalb nicht als böse. Sie erschien ihnen vielmehr als Voraussetzung, um überhaupt Ordnung und Frieden schaffen zu können. Aus dem dauernden Wettbewerb ergab sich immerhin eine Vorstellung vom gemeinsamen Europa, in dem eine gewisse Ruhe zum Vorteil aller durch die Balance von Gewichten und Gegenwichten erreicht werden könne. Ein solch relatives, jeweils neu zu bestimmendes Gleichgewicht der Kräfte genügte einstmals realistischen Europäern. Und diese Ausgewogenheit mit all ihren Unzulänglichkeiten nannten sie Frieden.

Brendan Simms, Professor für die Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Cambridge und überdies ein guter Kenner vor allem der preußischen Geschichte, berichtet in seinem neuesten Buch, „Der Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas“, allerdings nur vom ruhelosen Kontinent. In den Mittelpunkt seiner Geschichte rückt er Deutschland, weil Europa nie mit der deutschen Frage fertig wurde, die sich heute abermals als eine europäische Herausforderung stelle.

Diese Privilegierung Deutschlands überrascht, weil es eine deutsche Frage im Wortsinne nicht vor dem 19. Jahrhundert gegeben hat. Außerdem stritten die europäischen Herrscher meistens in Italien um die hegemoniale Führung. Der römische Kaiser und deutsche König nahm daran einen sehr erfolgreichen Anteil. Deutschland ist im übrigen ein untauglicher Begriff, denn die Deutschen lebten bis 1806 im Römische Reich. Ihre politische Zersplitterung verurteilte sie dennoch nicht zur Ohnmacht, wie Brendan Simms suggerieren möchte. Mit Österreich und Preußen gab es vielmehr zwei deutsche Großmächte, die auf den Gang der europäischen Geschichte erheblichen Einfluß nahmen. Die größte Leistung der deutschen Staaten für Europa war die Abwehr der Türken und zugleich damit, eine französische Hegemonie verhindert zu haben. In Frankreich bekämpften deutsche Staaten weniger ihren Erbfeind als den Feind ihrer und der europäischen Freiheiten.

Das Alte Reich, aus dem die vielen deutschen Vaterländer gar nicht ungeduldig herausstrebten, mißfällt allerdings Brendan Simms. Weniger aus politisch-historischen Gründen, sondern aus ganz aktuellen: In der EU mit ihren Schwerfälligkeiten sieht er ein Abbild der unpraktischen, ewig verhandelnden, alles in subtile Rechtsstreitereien auflösenden und Kompromisse suchenden Reichsstände. Brüssel gleicht unter solchen Voraussetzungen dem ewigen Reichstag in Regensburg. Das Römischen Reich mit seinen feierlichen Verzopftheiten stimmt ihn so ungeduldig wie dies „deutsche Europa“ von heute, das sich mit Verrechtlichung vor den Ungewißheiten der Politik schützen will, das aus Furcht vor der Konzentration der Macht deren Diffusion betreibt und überhaupt Entscheidungen ausweicht, dem umständlichen Dienstweg vertraut, aber nicht der raschen Entscheidung.

Damit schaffe Deutschland, das heutige Deutschland, täuschend ähnlich dem alten, ewigen Deutschland, ein politisches Vakuum. In diesem Europa als neuem Römischen Reich der deutschen Nation werde nicht gehandelt, sondern verhandelt. Der Brite spricht wie ein Schüler Carl Schmitts, also wie ein entschlossener Dezisionist. In diesem Sinne erwartet er eine wahre, eine politische Union Europas nicht als Ergebnis eines langwierigen, geduldigen Prozesses. Er vermißt vielmehr ein kollektives Feuer, das die europäische Einheit explosionsartig zum Ereignis macht wie 1707 die Union zwischen England und Schottland.

Seine deutsche Geschichte Europas ist keine historische Analyse der europäischen Entwicklung seit der Eroberung Konstantinopels 1453 bis heute. Die Geschichte dient ihm nur als Argument für eine ideologische Polemik, wie deutsche Bedenklichkeiten Europa hemmen und machtlos machen, während anglo-amerikanische Tüchtigkeit lebendige Unionen schuf, die überall auf der Welt dafür sorgen, daß gute, verwaltete Nachbarn die Flamme der Freiheit, der Selbst- und Mitbestimmung weiterreichen und die Welt durch entschlossene humanitären Interventionen mit der Demokratie vertraut gemacht wird, in der der Mensch im Menschen endlich den Menschen erkennt. Dieser Enthusiasmus beseelte die Engländer, die nicht für sich allein als freiester Staat leben wollten, sondern ihre Mission darin erkannten, die Welt aus Fesseln zu befreien und zur Freiheit zu erlösen.

Das bewegende Prinzip der europäischen Geschichte ist daher nicht das Recht, der Staat, die Ordnung, die alle zusammen – wie das Römische Reich veranschaulichte – nur Bürokratie, Langsamkeit und Ratlosigkeit produzierten. Die vitalen Kräfte brauchen die Leidenschaft für die Freiheit und Demokratie, die das Vereinigte Königreich zum modernsten, fortschrittlichsten und humansten Staatenbund gemacht haben. Sein Erbe sind die USA, die sich nach dem Vorbild der englisch-schottischen Union richteten und sie nun universalisieren. Europa muß sich daher anglisieren und amerikanisieren, bereit zu einem frisch-fröhlichen Kreuzzug gegen alle Feinde der Freiheit, ob Islamgläubige, Russen oder Chinesen.

Brendan Simms verficht leidenschaftlich die britische Befreiungsideologie der Whigs, die fast erloschen war. Sein Buch ist eine antieuropäische Kampfschrift. Die Europäer gehen unter, wenn sie sich nicht amerikanisieren und anglisieren. England war schon immer das bessere Europa, nur wurde es nie als solches erkannt. Deutschland hingegen ist verantwortlich für den Untergang des Abendlandes, wenn die EU zerfällt. Als Symptom britischer Europaängste ist Brendan Simms skurriles Buch sehr lesenswert und deshalb empfehlenswert.

Brendan Simms: Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute. DVA, München 2014, gebunden, 896 Seiten, 34,99 Euro

Foto: Aurora bei Suomussalmi in Nordostfinnland: Ei arka mies saa kaunista akkaa (Ein schüchterner Mann kriegt keine schöne Frau)

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